Die Tochter des Schmieds
ganz leise.
– Hast du von Nurays Sohn gehört?
– Welche Nuray, aus welcher Familie?
– Nuray von den İsmails.
– Der humpelnde İsmail?
– Ja, Nuray ist seine Nichte.
|97| – Und wer ist der Vater?
– Ich weiß nicht, ich kenn sie selber nicht. Sie ist die Nichte des humpelnden İsmail.
– Und was ist mit ihr?
– Ihr Sohn, er war gerade mal sechs Monate alt, er ist gestorben. An einer Sicherheitsnadel, so was hat man doch noch nie
gehört, oder? Die Nadel muß an dem Laken gewesen sein, in dem Bett, in das sie ihn gelegt hatten. Irgendwie ist sie aufgegangen
und hat sich in seinen Rücken gebohrt, eine große Sicherheitsnadel. Und sie wußten nicht, warum das Kind so schreit und weint,
und sie haben den Jungen auf den Arm genommen, sie haben Hoppe Reiter gespielt, um ihn zu beruhigen, sie haben ihn in die
Luft geworfen und gekitzelt, und er hat gebrüllt wie von Sinnen. Erst Stunden später hat er aufgehört und ist eingeschlafen.
Das haben sie jedenfalls gedacht, aber er war bewußtlos, und am nächsten Morgen war er tot. Als sie versucht haben, ihn zu
beruhigen, hat sich die Nadel in seine Wirbelsäule gebohrt.
– Oh, mein Gott, ist das wahr?
– Ja, Aylin hat es erzählt, sie kennt Nurays Schwester.
– Der Allmächtige beschütze uns vor solchen Übeln.
– Amen.
Nun hat Gül noch mehr Angst. Die Frauen haben aufgeraucht und fangen an, das Laub zusammenzurechen. Gül sieht ihren Vater
auf sich zukommen, aber sie fühlt sich nicht erleichtert, sondern beklommen. Wenn die Frauen hören, wie er sie anspricht,
dann werden sie wissen, daß Gül die ganze Zeit dort war, dann werden sie wissen, daß sie Angst hatte. Vorsichtig steht sie
also auf und geht ihrem Vater ein paar Schritte entgegen, zunächst langsam, leise, doch schließlich rennt sie und versucht,
fröhlich dabei auszusehen. Timur geht in die Hocke, breitet die Arme aus und wartet auf sie.
– Du hast ja gar nichts gegessen, sagt er etwas später.
– Ich hatte … Ich wollte auf dich warten.
|98| An dem Tag, an dem der erste Schnee fällt, bemerkt Gül, daß sich der Bauch ihrer Mutter schon wieder vorgewölbt hat. Sie weiß
gerade genug, um zu verstehen, daß sie wohl noch ein Geschwisterchen bekommen wird. Ihre Mutter sitzt manchmal abends mit
gekreuzten Beinen auf dem Boden, ein Kissen im Rücken, und streichelt sich still lächelnd über den Bauch. Es ähnelt dem Lächeln,
das ihre Lippen ab und zu umspielt, wenn sie Nalan auf dem Arm hält. Ein Lächeln, das Gül sonst fast nie an ihr sieht.
Dieses Jahr kommt Gül in der Schule ganz gut mit. Zwar ist sie weit davon entfernt, zu den besseren Schülern zu gehören, aber
durch die Stunden bei Onkel Abdurahman fällt Gül zumindest das Lesen und Schreiben nicht mehr schwer. Sie hat manchmal Schwierigkeiten,
weil sie nicht gut auswendig lernen kann, aber vielleicht findet sie einfach nicht genug Zeit dazu.
Eines Tages liest die Lehrerin eine Geschichte vor, in der ein Mann allein in den Wald geht, um Holz zu sammeln. Er hat einen
Esel dabei, den er bepackt, bis dieser kaum mehr laufen kann. Als es auf dem Rückweg anfängt zu regnen, stellte er sich in
einer kleinen Höhle unter, und sehr bald bricht die Dunkelheit herein. An dieser Stelle der Geschichte taucht wie aus dem
Nichts ein Löwe vor der Höhle auf, ein Löwe, der seit Tagen nichts gegessen hat und dessen Gebrüll dem Mann das Mark in den
Knochen gefrieren läßt.
– So, und jetzt holt eure Hefte raus, und schreibt ein Ende für diese Geschichte, sagt die Lehrerin. Danach werde ich die
Hefte einsammeln.
Gül überlegt hin und her, es dauerte einige Zeit, bis sie schließlich anfängt zu schreiben.
Der Mann hat Angst vor dem Löwen. Er geht rückwärts, und dann steht er mit dem Rücken zur Wand. Es ist dunkel. Der Löwe kann
den Mann nicht sehen. Er kann ihn nur riechen. Aber der Löwe will nicht in die Höhle. Der Löwe hat Angst vor Mäusen. Das einzige,
wovor er Angst hat, sind Mäuse. Er kann nichts dafür. Der Löwe hat Angst, daß es in der Höhle Mäuse
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gibt. Er riecht auch den Esel und überlegt sich, wen er zuerst fressen soll. Wenn sie herauskommen. Der Mann steht mit dem
Rücken an der Wand und ist ganz still. Wenn er still ist, vergißt der Löwe den Mann vielleicht. Er kann sehen, wie die Augen
des Löwen vor Hunger funkeln. In der Nacht wird der Löwe aber müde, und die Augen fallen ihm zu. Der Mann wartet, bis der
Löwe fest schläft.
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