Die Tochter des Schmieds
bekommen. Wir wollen nicht zum Gespött der Leute werden.
Gül weiß, daß Melike dort ißt, sie weiß es, weil Melike das bunt bedruckte Stanniolpapier der Schokolade aufbewahrt, die sie
im Haus des Arztes bekommt.
Arzu hat ihre Gründe, nicht zum Stadtgespräch werden zu wollen. Sie ist froh, daß langsam vergessen wird, was mit ihrem ersten
Ehemann war. Froh, daß vielleicht irgendwann ganz vergessen sein wird, daß sie schon einmal verheiratet war. Wenn sich der
Klatsch erst verbreitet hat, gibt es kaum noch ein Entkommen. Arzu möchte nicht auffallen, es sei denn dadurch, daß ihr Mann
groß und stark ist und Geld hat. Es sei denn durch ein Kopftuch aus reiner Seide aus Bursa. Es soll schon über sie geredet
werden, aber bewundernd und mit leisem Neid.
Doch keineswegs darüber, daß ihre Kinder Gefängnisstrümpfe tragen. Jahrelang glaubt Gül, Gefängnisstrümpfe seien eine bestimmte
Art von Socken, nämlich graue dünne Baumwollsocken, die schnell Löcher bekommen, meistens an den Zehen. Ihre Mutter hat ihr
beigebracht, wie man von den Socken, die ohnehin keine Ferse haben, vorne ein Stück abschneidet und sie dann wieder zunäht.
Das ist Güls Aufgabe, alle zwei, drei Wochen werden die Zehen der Socken, die zu dünn zum Stopfen sind, einfach gekürzt. Schon
bald reichen die Socken nicht mehr über den Knöchel, und Timur kauft einen neuen Schwung Gefängnisstrümpfe.
|107| Von klein auf hat Gül diese beiden Worte zusammen gehört, und sie glaubt, es sei so ähnlich wie mit den Löffeln. Wie Eßlöffel,
Kochlöffel, Teelöffel gibt es Kniestrümpfe für den Winter, von denen jede der Schwestern nur ein Paar hat, das sie zur Schule
anziehen, es gibt Strumpfhosen und eben Gefängnisstrümpfe. Jahre später wird Gül erst verstehen, daß es Strümpfe sind, die
die Insassen der örtlichen Justizvollzugsanstalt herstellen, um eine Beschäftigung zu haben und Geld zu verdienen. Weniger
als sie, wenn sie den Blasebalg betätigt.
Doch bevor sie es versteht, sitzt sie, wie viele andere in der Stadt, abends beim Schein der Lampe im Zimmer und erneuert
die Spitze der fadenscheinigen Socken und versucht die Naht möglichst fein zu machen, damit die Strümpfe bequemer zu tragen
sind.
Im Frühling braucht man so etwas nicht, im Frühling tragen die Schwestern das einzige Paar Schuhe, das sie besitzen, nur noch
zur Schule. Sobald es warm genug ist, laufen sie, wie fast alle anderen auch, barfuß herum. Oder in billigen Plastiksandalen,
in denen man keinen Halt mehr hat, sobald es noch wärmer wird und die Füße anfangen zu schwitzen.
Es wäre trotz allem genug Geld da, den Mädchen ein zweites Paar Schuhe zu kaufen, doch zwei Paar Schuhe sind ein Luxus, der
nicht nötig ist. Darüber ist man sich in dieser Stadt einig, ob reich, ob arm, spielt da kaum eine Rolle.
Das Radio hingegen ist ein akzeptierter Luxus, davon haben viele Menschen etwas, ab und zu kommt Besuch, nur um Radio zu hören,
aber im Winter üben die Stimmen aus dem Kasten einfach nicht die gleiche Verlockung aus wie im Sommer. Immer öfter bleibt
das Radio abends aus, es sei denn, es wird ein Spiel von Beşiktaş übertragen. Das Radio hat nicht nur den Reiz des Neuen verloren.
Timur hat in der Stadt keinen Lautsprecher auf das Dach gestellt, und es ist, als würde das Vergnügen kleiner werden, wenn
man es nicht teilt.
Als in diesem Jahr der erste Schnee fällt, ist Gül in der Schule. Es kommen dicke Flocken herunter, zuerst noch vereinzelt, |108| aber sehr bald nimmt das Schneetreiben zu, und als Gül in der Mittagspause zu ihrem Vater geht, knirscht der Schnee unter
ihren Sohlen, und Melike und Sezen bauen einen Schneemann.
In der Schmiede ist es schön warm, wie immer. Timur sitzt auf einem Schemel und hat einen leidenden Gesichtsausdruck. Seine
Miene hellt sich etwas auf, als er Gül sieht.
– Komm doch rein, meine Kleine. Möchtest du dir ein paar Kuruş verdienen?
So begrüßt er sie sonst nie. Gül legt ihre Tasche ab und geht direkt zum Blasebalg, aber ihr Vater sagt:
– Nein, nein. Komm her.
Er zieht seine Hosenbeine hoch bis zu den Knien, seine spärlich behaarten Waden kommen zum Vorschein. Aus dem Kragen seines
Hemdes kringeln sich Haare, und da er sich nicht täglich rasiert, bekommt Gül auch seine harten Stoppeln oft zu spüren. Bisher
hat sie nicht die Gelegenheit gehabt, die Waden ihres Vaters zu betrachten. Wenn überhaupt, hat sie sich vorgestellt, seine
Beine
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