Die Tochter des Schmieds
Ruhe, sagt Gül zu Melike, die einen Schritt auf Sibel zugegangen ist. Als Melike nun den Kopf dreht, um Gül anzusehen,
nutzt Sibel die Gelegenheit, tritt Melike gegen das Schienbein und flüchtet sofort auf den Diwan. Melike springt hinterher,
kriegt Sibel zu fassen. Gül versucht zu schlichten. Da sind Arme, Beine, Tritte, Knüffe, Schläge, gezogene Haare, Kratzspuren,
Speichel, ein Knäuel aus drei Schwestern, aus dem Gül sich sehr unfreiwillig löst.
Ist das Melikes Schulter, auf der ihr Bauch liegt? Wo sind ihre eigenen Arme? Warum sind sie nicht ausgestreckt, als sie kopfüber
an Melikes Rücken entlang in Richtung Boden fällt? Vom Diwan auf den Boden, ihre Füße zeigen nach oben. Und unten, dort, wo
sie mit dem Nasenbein aufkommt, liegt verkehrt herum die Kupferschüssel, aus der sie nachts Wasser ins Glas schütten. Die
Schüssel ist umgedreht, denkt Gül noch, bevor der Schmerz mit einem Mal da ist.
Sie schreit nicht mal. Sie ist ganz still. Und auch ihre Schwestern verstummen, als würden sie ahnen, daß etwas Schlimmes
passiert ist.
Komm her, hinter dieser Tür ist der Schmerz, hat jemand wohl gesagt, eine Tür geöffnet und Gül in einen Raum gestoßen, einen
großen Raum, dunkel, ohne Wände, ohne Boden, ohne Decke, nur alles verschlingender Schmerz.
In den nächsten Minuten bekommt sie nichts mit, die Welt hat aufgehört. Eben noch war da ein Knäuel aus Armen, Händen, Beinen,
Füßen, und jetzt spürt sie ihre Gliedmaßen nicht |114| mehr. Da ist nur dieser Schmerz, der ihr Hirn pochen läßt und ihr den Atem nimmt.
Als sie fünf Minuten später die Hände von ihrer Nase nimmt und in den Spiegel sieht, schimmert die Haut unter ihren Augen
schon rötlich, um ihre Nase herum sieht das Gesicht ganz merkwürdig und geschwollen aus. Und sie muß geweint haben, ohne daß
sie es selbst gehört hat.
Sie weiß, daß ihre Mutter jetzt andere Sorgen hat, sie weiß, daß gerade Emin geboren wird, sie kann nicht zu ihrer Mutter.
Gül fühlt sich schuldig, weil sie es nicht geschafft hat, zu schlichten, weil sie mitgekebbelt hat. Sie hat Angst davor, aus
diesem Zimmer zu gehen und zu erzählen, was passiert ist. Und ihr eigenes Gesicht macht ihr auch Angst. Sie legt sich einfach
auf den Boden und überläßt sich dem Schmerz.
Innerhalb einer Viertelstunde bekommt sie Ringe unter den Augen, so ähnlich wie Fatma, kurz bevor sie starb. Ihr Gesicht schwillt
so stark an, daß sich das Nasenbein kaum noch abhebt.
Sie weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ihr Vater ins Zimmer kommt, sie weiß nicht, ob ihr Bruder schon geboren wurde
oder nicht, sie weiß nicht, ob Sibel ihren Vater vielleicht gerufen hat, sie weiß nur, daß sie Schmerzen hat, Schmerzen und
Angst, Angst, so auszusehen wie der nasenlose Abdul.
– Zeig mal her, sagt ihr Vater und beugt sich über Güls Gesicht. Gül sieht den Schrecken in seinen Augen.
– Wie ist das passiert?
– Beim Spielen, sagt Gül.
Ihre Stimme hört sich fremd an.
– Wer beim Spielen hinfällt, darf nicht weinen, sagt ihr Vater.
Ein Satz, den er oft sagt, aber dieses Mal scheint er es nicht so zu meinen.
– Tut es weh?
Gül laufen als Antwort die Tränen aus den Augenwinkeln, |115| erst ganz langsam, eine links, dann eine rechts, doch danach kann man sie nicht mehr zählen, lautlos rinnen sie ihre Schläfen
hinab. Timur legt vorsichtig einen Finger auf ihr Nasenbein.
Die Hebamme ist schon weg, er hat einen Sohn, den er Emin nennen will, er wird aufhören zu rauchen, doch zuerst muß er sich
nun um seine Tochter kümmern.
– Frau, Gül ist hingefallen und hat sich weh getan. Bestimmt steckt wieder Melike dahinter. Ich geh den Arzt holen, sagt er,
als er in das Zimmer kommt, wo Arzu das Neugeborene im Arm hält und wo seine Mütze liegt. Er geht nicht ohne Mütze aus dem
Haus, im Sommer nicht ohne seine Sommermütze, die ihn vor der Sonne schützt, und im Winter nicht ohne seine Wintermütze, die
ihn warm hält.
– Was hat sie? fragt Arzu
– Ihr Gesicht ist geschwollen, es sieht zum Fürchten aus.
– Was?
– Vielleicht ist etwas gebrochen.
– Hol nicht den Arzt.
– Wieso?
– Das wird niemand glauben, daß das beim Spielen passiert ist. Die Leute werden sagen, du hättest sie geschlagen. Die Nachbarn
werden schlecht über dich reden. Sie werden sagen, daß du nicht in der Lage warst, mit deinen Töchtern fertig zu werden, während
ich in den Wehen lag. Wir werden zum Gespött der Leute
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