Die Tochter des Schmieds
tatsächlich nichts weiter. Dieser Mann kann viel sturer sein als diese Kuh. Und verletzender.
Arzu sieht es nicht gern, daß er regelmäßig das Grab seiner verstorbenen Frau besucht. Sie begleitet ihn selten auf den Friedhof,
weil es ihr immer zu lange dauert. Timur geht in die Hocke, schließt die Augen und verharrt dann minutenlang bewegungslos
in dieser Stellung.
|111| – Was machst du denn so lange da? fragt sie ihn eines Tages.
– Ich rede mit Fatma.
– Und was sagst du ihr?
– Ich sage, Fatma, sage ich, du liegst jetzt schon so lange da. Könntest du nicht kommen und wenigstens für ein paar Wochen
mit Arzu tauschen?
An dem Tag, an dem Gül ihrem Vater zum ersten Mal die juckenden Waden kratzt, sieht sie auf dem Rückweg zur Schule den Mann,
zu dem sie der Siebmacher damals gebracht hatte. Er erkennt sie natürlich nicht wieder, aber Gül hat sofort diesen Tag vor
Augen, an dem sie verlorengegangen ist, und sie hat die Stimme dieses Mannes im Ohr: Geh, das ist nicht meine Tochter, ich
habe schon vier Mädchen, was ich möchte, ist ein Sohn. Nicht einen Sohn hat mir der Barmherzige geschenkt. Bleib mir weg mit
noch einem Mädchen.
Gül weiß, daß ihr Vater auch gern einen Sohn hätte, selbst wenn er nie darüber redet. Und in diesem Moment, in dem ihr die
Worte des anderen Schmieds einfallen, weiß sie genau, daß der Wunsch ihres Vaters bald in Erfüllung gehen wird. Es ist ein
Bild. Das Bild von einem kleinen Bruder, von einem kleinen, schreienden Bruder mit blaugrünen Augen und hellen Haaren. Es
ist ein Bild, so stark wie jenes, das sie hatte, als sie im Fieber lag und die Balken der Decke sich auf sie herabsenkten
und sie vor Angst schrie. Das Bild des Bruders hat die gleiche Kraft, aber Gül ist dieses Mal gesund. Sie ist sich sicher.
Emin. Er wird Emin heißen.
Und abends weiß Gül mit der gleichen Sicherheit, daß ihr Vater aufhören wird zu rauchen. Er sitzt da, bei einem Glas Rakı,
raucht, das Radio ist aus, Timur scheint genervt zu sein, die behaglichen Seufzer von heute mittag, als Gül ihn gekratzt hat,
sind lange her. Vielleicht hat er sich über etwas geärgert, sein Gehilfe hat sich blöd angestellt, vielleicht hat er nach
der Arbeit im Teehaus noch Backgammon gespielt und hoch verloren, vielleicht hat ihn gestört, wie Arzu die Gabel beim Essen
hält und daß sie nicht aufhört zu reden. Irgend |112| etwas, das er jetzt nicht zugeben würde. Wenn Beşiktaş verliert, dann schimpft er immer laut auf seine Mannschaft. Nun murmelt
er vor sich hin:
– Vier Töchter, dem Herrn sei es gedankt.
Er streicht Gül abwesend über den Kopf, läßt seine Hand in ihrem Nacken ruhen.
– Doch wenn der Allmächtige mir auch einen Sohn schenken könnte …
Er sieht auf Arzus Bauch, es ist das erste Mal, daß er diesen Wunsch laut vor seiner Ältesten äußert.
– Wenn der Barmherzige mir einen Sohn schenkt, gelobe ich, daß ich aufhören werde zu rauchen.
Gül ist es egal, ob ihr Vater raucht oder nicht, aber sie weiß vor ihm, daß er aufhören wird. Ihre Mutter scheint es nicht
zu wissen. Später, wenn Gül selber verheiratet ist und angefangen hat zu rauchen, wird sie noch öfter an diesen Tag zurückdenken,
an dem sie wußte, daß ihr Vater die Kraft haben würde, dieses Laster aufzugeben.
Es sind Schulferien, sie wohnen wieder im Sommerhaus, als Arzu eines frühen Abends in den Wehen liegt. Die Schwestern werden
ins andere Zimmer geschickt, wo Melike und Sibel sehr bald anfangen sich zu streiten.
– Du hast dich gestern beim Versteckenspielen im Haus versteckt, sagt Sibel.
– Habe ich gar nicht, lügt Melike, die schlecht verlieren kann.
Wenn es um Fangen geht, um Seilspringen, um Ballspiele, gewinnt sie beinahe immer. Sie ist flink und geschickt. In der Mittelschule
wird sie in der Volleyballmannschaft spielen. Doch beim Verstecken findet sie zwar Schlupfwinkel, an denen man sie nie entdecken
könnte, aber sie ist zu ungeduldig, um lange genug dort zu bleiben.
– Doch, du hast dich im Haus versteckt. Nalan hat dich gesehen.
– Glaubst du etwa so einem kleinen Kind?
|113| – Sie hat dich gesehen.
– Hat sie nicht.
Melike stampft mit dem Fuß auf.
– Hört doch auf, sagt Gül.
– Misch dich nicht ein, sagt Melike.
– Im Haus, sagt Sibel.
– Gar nicht, entgegnet Melike und schlägt ihre Schwester auf die Schulter. Sibel zieht den Kopf ein und weicht zwar zurück,
beharrt aber:
– Im Haus.
– Laß sie in
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