Die Tochter des Schmieds
Dann rennt er leise an dem Löwen vorbei und rettet sich in sein Dorf. Sein Esel bleibt zurück und wird
gefressen. Seine Frau und seine Kinder freuen sich, als er heimkommt, und feiern ein großes Fest.
In der Pause erzählen sich alle, was sie geschrieben haben. Gül scheint die einzige zu sein, die den Mann hat überleben lassen.
Bei den meisten wird er gefressen, oder er verliert zumindest ein Bein. Und stirbt dann, weil er auf einem Bein nicht heimgehen
kann. Einer hat den Mann mit dem gesammelten Holz sogar Feuer machen lassen, weil Löwen ja Angst vor Feuer haben. Der Löwe
fraß den Mann, als das Holz niedergebrannt war.
Am nächsten Tag gibt die Lehrerin ihren Schülern die Hefte zurück und sagt zu Gül:
– Kannst du nach der Stunde bitte noch dableiben?
Sie sagt es freundlich und warm, aber trotzdem fühlt Gül sich unbehaglich. War es falsch, den Mann überleben zu lassen?
– Gül, sagt die Lehrerin, als sie allein sind, Gül, alle deine Mitschüler haben den Mann sterben lassen, weißt du das?
Gül nickt und sieht auf den Boden.
– Und warum wolltest du ihn nicht sterben lassen?
– Er hat mir leid getan.
– Warum hat er dir leid getan?
Gül überlegt.
– Die Frau und die Kinder haben mir leid getan. Die Kinder hätten dann keinen Vater mehr gehabt.
– Aber du hast einen Vater, oder?
– Ja, sagt Gül.
– Und eine Mutter?
|100| Gül sieht hoch, ihrer Lehrerin ins Gesicht.
– Ja … Eine Stiefmutter.
Gül sieht ihrer Lehrerin immer noch ins Gesicht.
– Sie kümmert sich bestimmt gut um dich, nicht wahr?
– Ja, sagt Gül und senkt ihren Kopf wieder ein Stück.
– Bist du die Älteste?
– Ja.
– Das Mädchen, dessen Mutter stirbt, hält sich für eine Mutter, sagt man. Weißt du das?
– Ja.
Meistens glauben die Leute, daß Gül nicht zuhört, wenn die Worte der Ahnen in ihrer Gegenwart zitiert werden.
Wer keine Mutter hat, hat auch keinen Vater. Stiefmütter geben verwässerten Ayran und die verbrannte Ecke des Brotes.
Sie kennt diese Sprichwörter, die für sie alle das gleiche bedeuten: Sie muß auf ihre Schwestern achtgeben.
– Du kannst immer zu mir kommen, sagt die Lehrerin, sei nicht schüchtern. Ich helfe dir gerne.
– Danke, sagt Gül artig.
Sie weiß, daß sie nie zu ihrer Lehrerin gehen wird. Hat die nicht gerade selber gesagt, daß Gül fast eine Mutter ist.
Sibel wacht nachts manchmal auf, weil sie aufs Klo muß. Dann weckt sie Gül, weil sie sich im Dunkeln allein nicht raustraut.
Gül hat auch Angst im Dunkeln, und wenn sie selbst nachts mit Druck auf der Blase aufwacht, dreht sie sich um und versucht
wieder einzuschlafen. Sie haben zwar eine Taschenlampe, aber das bißchen Licht hilft Gül nicht, ihre Angst zu vertreiben.
Doch wenn Sibel sie weckt, nimmt sie ihre Schwester an die linke Hand, leuchtet mit der rechten und wartet dann in der geöffneten
Tür. Sie ziehen immer Strickjacken an, aber als es noch kälter wird, gehen sie oft nicht die zwanzig Schritte bis zum Klo,
sondern Sibel macht einfach in den Hof, direkt neben die Wand des Stalls.
Einmal weckt Gül Sibel mitten in der Nacht und fragt, ob |101| sie nicht muß. Gemeinsam gehen sie raus und nacheinander auf das Klo. Und jedesmal, wenn Sibel nachts wach wird, rüttelt Gül
auch Melike sanft.
– Melike, mußt du?
– Nein, sagt Melike immer, dreht sich um und schläft weiter. Oft genug muß Gül trotzdem morgens das Laken wechseln. Mittlerweile
liegt unter Melikes Laken eine Plane.
In diesem Winter kommt Tante Hülya einige Abende hintereinander zu Besuch. Ohne Onkel Yücel. Fast jedesmal zieht sie Timur
in die Küche, und Gül hört die gedämpften Stimmen, kann aber nicht verstehen, was gesprochen wird. Sie kann auch den Blick
nicht deuten, mit dem Tante Hülya sie manches Mal ansieht. Aber sie versteht, was es heißt, als Tante Hülya zu Arzu sagt:
Timur war mir Vater und Bruder.
Sie versteht, daß es möglich war, diesen Raum zu füllen, daß ihr Vater groß genug sein konnte, um diesen Platz einzunehmen.
Und sie selbst fühlt sich klein. Klein, aber stark. Sie hat keine Angst vor Anstrengungen. Sie hat Angst vor dem Schmerz,
vor jenem Schmerz, den sie empfunden hat, als Özlem behauptet hat: Natürlich hast du den Traubensaft verteilt, ich habs doch
gesehen. Und vor einem Schmerz, wie dem, den sie in diesem Winter in der Küche erfährt.
Arzu sitzt auf dem Boden und rollt Teig aus, Gül kommt in die Küche, sie steht seitlich hinter
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