Die Tochter des Schmieds
hab keine Angst.
Er legt vorsichtig zwei Finger zwischen ihre Augenbrauen, die Haut spannt und ist heiß.
– Tut das weh?
|118| – Nein, sagt Gül. Sie würde lieber den Kopf schütteln, doch sie ahnt, daß das weh tun würde.
Der Arzt tastet mit seinen Fingern vorsichtig das Nasenbein ab, an einer Stelle hält er inne, verstärkt den Druck, und dieser
Druck treibt Gül die Tränen in die Augen, doch sie sagt kein Wort.
– Es ist gebrochen, sagt der Arzt und nickt dann Timur zu, der die ganze Zeit danebengestanden hat, die Mütze in der Hand,
in der er sonst die Zigarette gehalten hätte.
Timur stellt sich hinter Gül, hält ihren Kopf fest, der Arzt tastet noch mal mit seinen Fingern, und Gül glaubt sich sicher,
weil sie die Hände ihres Vater fühlt, der beruhigend auf sie einmurmelt.
Mit einer schnellen Bewegung rückt der Arzt ihr Nasenbein wieder gerade. Jetzt schießen alle gesammelten Tränen auf einmal
durch Güls Augen, und gleichzeitig schreit sie auf, mit dieser Stimme, die ihr fremd ist.
– Es ist vorbei, mein Mädchen, es ist vorbei, tröstet sie der Arzt.
Timur gibt er Tabletten und sagt:
– Die sind gegen die Schmerzen, sie soll nur eine halbe am Tag nehmen. Sie ist ein Kind, es wird schnell heilen. In drei Tagen
wird man nichts mehr sehen.
Gül weiß, daß der Arzt das sagt, um sie zu beruhigen. Sie weiß, daß niemand ihr sagen würde: Du wirst wie der nasenlose Abdul
aussehen. Selbst, wenn es die Wahrheit wäre.
– Du bleibst einfach ein paar Tage zu Hause, sagt Timur und zwinkert dabei dem Arzt zu, es ist bestimmt besser, wenn du nicht
hinausgehst.
– Ja, sagt der Arzt, ein paar Tage solltest du drinnen bleiben.
Gül sieht alles nur durch einen Schleier von Tränen, und sie scheint auch so zu hören, als wäre da etwas zwischen der Welt
und ihren Ohren. Doch es ist ihr recht, daß sie nicht aus dem Haus muß.
Melike wird im Herbst in die vierte Klasse gehen, doch hin und wieder passiert es ihr immer noch, daß sie nachts nicht |119| wach wird und ins Bett macht. An diesem Tag verschwindet sie nicht wie sonst, sie zieht das Laken selbst ab. Gül ist, nachdem
der Arzt weg war, wieder ins Bett gegangen und liegt da, nun eingelullt von der Schmerztablette und erschöpft von der fast
durchwachten Nacht. Dankbar nimmt sie das Glas frische Milch, das Melike ihr bringt, und dämmert ein.
Zeliha und Hülya kommen, um nach dem Neugeborenen zu sehen, und Timur erzählt ihnen, daß Gül sich die Nase gebrochen hat.
Hülya geht hinüber, und als sie die Tür hinter sich schließt, wacht Gül auf. Sie sieht Tante Hülyas Augen in dem Moment, in
dem Hülya sie erblickt. Kurz darauf lächelt ihre Tante schon. Sie nimmt ihr Kopftuch ab, das verrutscht ist. Nachdem sie sich
auf die Matratze gesetzt hat, sagt sie:
– Mein Herzblatt.
Die Ringe unter Güls Augen haben genau die gleiche Farbe wie die ihrer Schwägerin, bevor sie starb.
– Das geht vorbei, mein Herzblatt, sagt sie, das geht vorbei.
Gül hat ihre Tante bisher nur im Dampfbad ohne Kopftuch gesehen. Hülya kommt ihr schön und gleichzeitig unbekannt vor.
– Tut es sehr weh, meine Ärmste?
Hülya küßt Gül vorsichtig auf die Stirn, die sich immer noch taub anfühlt.
Gül hat vorhin den Blick ihrer Tante gesehen, sie hat den Moment erlebt, als ihre Tante nackter war als ohne Kopftuch, nackter
als im Dampfbad. Sie hat das Entsetzen in ihrem schielenden Blick gesehen. Einen Lidschlag lang waren alle Masken abgefallen,
alle Worte, jedes Gelächter und jede Träne, einen Lidschlag lang hat sie die Wahrheit gesehen. Einen Lidschlag lang war die
Welt der Klang eines Löffels, der gegen eine Wand geschleudert wird.
Diesen Blick hat ihre Großmutter nicht, sie schaut Gül an und sagt dann unbekümmert:
– Aber das ist ja fast schon wieder verheilt. Das ist doch nicht weiter schlimm.
|120| Sie steckt sich eine Zigarette in den Mund und braucht sehr lange, bis sie ein Streichholz aus der Packung gefingert hat.
Als Gül das nächste Mal aufwacht, liegt neben ihrem Kissen Schokolade. In Silberpapier gewickelt wie die Schokolade, die Melike
manchmal mitbringt, wenn sie bei Sezen war, und die sie nie teilt.
Gül packt die Schokolade aus, vorsichtig, damit das Papier nicht reißt, und ißt sie in aller Ruhe. Von draußen hört sie Stimmen,
Menschen, die kommen, um ihren neugeborenen Bruder zu sehen, den sie auch noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Sie kann die
Stimme Onkel Fuats erkennen,
Weitere Kostenlose Bücher