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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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werden.
    Unschlüssig steht der Schmied da. Was sie sagt, ist nicht unwahrscheinlich.
    – Aber was sollen wir machen?
    – Das heilt doch bestimmt. Sie geht ein paar Tage nicht auf die Straße, dann bekommt auch niemand etwas mit. Es ist ein Kind,
     da heilt das schnell.
    Timur dreht die Mütze in seiner Hand. Sein Sohn gibt keinen Mucks von sich. Der Schmied ist überfordert. Nachdem sein Vater
     gestorben ist, war er schon sehr früh der Mann im Haus, doch er hat sich immer viel sagen lassen von seiner |116| Mutter und später von Fatma. Es ist ihm zur Gewohnheit geworden, zu glauben, die Frauen wüßten in einigen Dingen besser Bescheid.
     Hat ihn nicht seine Mutter mit Fatma verheiratet? Ging es ihm nicht sehr gut, als Fatma noch Teppiche geknüpft und sich um
     sein Geld gekümmert hat? Kann es nicht sein, daß alle schlecht von ihm reden, wenn er jetzt einen Arzt holt?
    – An seiner Tochter hat der skrupellose Mann seine Kräfte erprobt, werden sie sagen. Du wirst Schande über dieses Haus bringen,
     wenn du den Arzt holst. Haben nicht alle schon mal gesehen, wie du Melike geschlagen hast? Alle werden glauben, du hast Gül
     so verprügelt, daß der Arzt kommen mußte. Wenn du deinen Gott liebst, tust du uns das nicht an.
    Timur legt die Mütze weg. Er würde jetzt gern eine rauchen. Doch der Herr hat ihm einen Sohn geschenkt, und er wird nicht
     mehr rauchen, nie mehr. Er geht hinaus in den Garten, zieht die Schachtel aus der Tasche. Schon seit einiger Zeit dreht er
     nicht mehr selber. Die Packung ist noch halb voll, eine Zigarette nach der anderen zerbröselt er zwischen seinen Fingern.
     Ein Sohn. Heute sollte ein Tag der Freude sein. Und die Ärzte sind doch sowieso alle Quacksalber, die ein wenig studiert und
     nichts gelernt haben. Er hat von diesem Tierarzt aus Istanbul gehört, der noch nie eine lebende Kuh gesehen hatte, sondern
     nur Bilder in Büchern. So sind sie doch alle, die Ärzte, sie haben keine Ahnung.
    Gül liegt rücklings auf dem Diwan, Sibel hat ihr etwas zu trinken gebracht. Selbst Güls Lippen fühlen sich mittlerweile geschwollen
     an, geschwollen und taub, wie der Rest ihres Gesichtes. Wenn sie ihre Wangen mit den Fingern berührt, scheint dort kein Gefühl
     zu sein, aber der Schmerz ist trotzdem da, unter der Haut, er pocht und pulsiert, er ist lebendig. Gül hat die Augen geschlossen
     und sieht immer wieder den nasenlosen Abdul und ein Bild, das sich beim letzten Opferfest eingebrannt hat.
    Ihr Vater hatte ein Lamm geschlachtet, das Tier hatte ihr leid getan, doch sie empfand weder Angst noch Ekel und wußte |117| genau, daß sie dieses Fleisch später essen würden. Timur ließ das Tier ausbluten, zerlegte es, und als ein Stück des Beines
     in der großen Schüssel lag, fing der Muskel an zu zittern, spannte und entspannte sich in schneller Folge. Das war der Moment,
     in dem Gül Angst bekam. Weil da Leben war, wo keins sein sollte. Sie hatte auf dieses Bein gestarrt und sich nicht getraut,
     es anzufassen, obwohl sie am liebsten genau das getan hätte. Das Leben existierte unabhängig vom Lamm. Und genauso ist es
     jetzt mit dem Schmerz, er ist da, die ganze Zeit, er existiert unabhängig von ihr, er ist größer als Gül, er hüllt sie ein.
    Wahrscheinlich ist sie dann doch eingeschlafen, denn sie merkt nicht, wie ihr Vater ins Zimmer kommt, sie hat nicht gehört,
     daß die Vögel schon zwitschern, die Sonne wird bald aufgehen.
    – Gül, flüstert ihr Vater, Gül, wach auf, ich habe den Arzt geholt. Zieh dich an und komm mit raus.
    Zum ersten Mal, seit sie hingefallen ist, verläßt Gül das Zimmer. Sie braucht sich nicht anzuziehen, sie hat sich gestern
     gar nicht mehr ausgezogen. Als sie steht, fühlt sich der Schmerz anders an, doch sie kann ihn ertragen, ohne aufzustöhnen.
    Im kurzen Flur, in dem der Arzt mit einer Tasche in der Hand wartet, blickt sie kurz in den Spiegel. Die dunkelgrünvioletten
     Ringe unter ihren Augen reichen bis zu den Wangenknochen, dort erst werden sie etwas heller, gelblicher. Ihr Nasenbein ist
     nun wirklich nicht mehr zu erkennen.
    Sie wird bald genauso aussehen wie der nasenlose Abdul. Deshalb ist der Arzt da, er wird ihre Nase mitnehmen. Sie wird die
     nasenlose Gül werden, und die Kinder werden ihr Spiel unterbrechen und fortlaufen, wenn sie die Straße entlanggeht, sie wird
     sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Sie spürt die Tränen, doch sie wollen nicht heraus, sie sammeln sich irgendwo.
    – Setz dich, Kleines, sagt der Arzt,

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