Die Tochter des Schmieds
besuchen kommt. Gefühle sind wie unsichtbare Menschen. Sie kommen, sie gehen, sie können
ganz nah sein, oder man kann sie wie aus der Ferne sehen, undeutlich und unscharf. Manche sind schön, so schön, daß es weh
tut, wenn sie direkt vor einem stehen, vor anderen erschrickt man wie vor dem nasenlosen Abdul, aber alle haben sie ein eigenes
Leben. Man bekommt sie nicht dazu, zu tun, was man will. Und außer einem selbst weiß niemand, wann sie da sind. Man spürt
sie, wie man Menschen spürt. Manche weich und warm und manche kalt und klumpig wie die Angst. Kalt und klumpig und gezackt
wie ein Blitz und größer und dunkler als der Schatten ihres Vaters in der Abendsonne.
Immer wieder kommt die Angst in Güls Leben und flüstert etwas, das Gül nicht richtig verstehen kann. Ich nehme es mit, scheint
sie zu sagen, ich nehme es mit. Meistens geht sie mit |140| leeren Händen. Doch Gül weiß, daß die Angst ihre Drohung wahr machen kann.
Gül wird heiß, da ist ein Schweißfilm auf ihrer Stirn, als sie anfängt, Emin auszuziehen. Sie muß ihn ausziehen, splitternackt,
sie muß sehen, ob sich irgendwo eine Sicherheitsnadel in seine Haut gebohrt hat, vielleicht eine der Nadeln, mit denen man
die Windeln befestigt.
Schnell, schnell, vielleicht kann sie ihren Bruder noch retten.
Sie muß sich beeilen, doch gleichzeitig muß sie vorsichtig sein, damit die Nadel sich nicht noch tiefer ins Fleisch bohrt.
Sie zieht ihm den Pulli über den Kopf, dann zieht sie vorsichtig das Unterhemd aus, sieht sich seine kleine Brust an, seinen
Bauch, seinen Rücken, doch da ist nichts. Emin weint, weint und schreit und strampelt mit den Füßen, daß Gül Schwierigkeiten
hat, ihm die Hose auszuziehen.
Beim Wickeln bekommt er ein Tuch um, das mit einer Sicherheitsnadel befestigt wird. Darüber wird ein Gummihöschen gezogen,
das ganz stramme Bündchen hat, damit nichts heraussickert und ihm die Beine herunterläuft.
Jetzt kann Gül sehen, daß das Bündchen am rechten Bein verrutscht ist. Ihre Mutter muß sich vorhin sehr beeilt haben. Der
Gummizug, der eigentlich das Bein umschließen soll, verläuft vom Schritt bis hoch zur Hüfte. Gül zieht die Gummihose aus,
öffnet die Sicherheitsnadel und wickelt das Tuch auf. Sie sieht den kleinen Penis und den Hodensack ihres Bruders, denen der
Gummibund das Blut abgeschnürt haben muß. Sie sind dunkler als sein Kopf beim Schreien. Dunkler als die Ränder unter den Augen
ihrer Mutter, bevor sie starb. Einen kurzen Moment hört Emin auf zu weinen.
Gül starrt auf das violette Anhängsel, sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll. Emin fängt wieder an zu weinen, strampelt und
schreit, aber es hört sich jetzt nicht mehr so angestrengt an. Was soll sie tun? Sie kann ihren Blick nicht abwenden. Es sieht
gefährlich aus. Kann man daran sterben? Oder wird er jetzt doch noch ein Mädchen?
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|141| – Es wird alles gut, es ist vorbei, flüstert sie und sieht zu, wie Penis und Hodensack langsam ihre dunkle Farbe verlieren.
Oder bildet sie sich das nur ein? Nein. Nein, nein, sie nehmen langsam wieder Hautfarbe an. Langsam, aber es scheint zu helfen,
daß sie mit angehaltenem Atem dorthin starrt. Als sie schließlich ausatmet, laufen ihr die Tränen hinunter.
Viele Jahre lang wird sie diese Geschichte niemandem erzählen. Ihre Mutter hätte geschimpft und abgestritten, daß sie beim
Wickeln etwas falsch gemacht hat. Wieso hätte sie es ihrem Vater erzählen sollen und wieso ihren Schwestern? Viel später erst,
wenn sie eigene Kinder hat, wird sie erzählen, was an diesem Tag passiert ist, und sie wird hinzufügen:
– Das ist es, was einen Menschen einsam macht, nicht teilen zu können.
Der Schnee des Winters ist schon geschmolzen, als ihr Vater Gül eines Tages zum Krämer schickt, um noch Zigaretten zu kaufen
für den Besuch, den sie am Abend erwarten. In diesem Winter hat sich Gül das Trödeln angewöhnt. Sie trödelt nicht, wenn sie
zur Schule muß, oder morgens beim Frühstück, auch nicht beim Spülen, Wäschewaschen, Windelnwechseln. Sie trödelt, wenn man
sie irgendwohin schickt. Sie schaut in der Gegend herum, sieht den anderen beim Spielen zu, wünscht sich, daß es Sommer wäre
und sie im Garten des Sommerhauses sitzen könnte, allein, im Schatten eines Baumes. Sie genießt die Zeit, die sie für sich
hat. Wenn Arzu das mitbekommt, sagt sie:
– Du träumst. Du träumst, und dann mußt du dich hinterher beeilen und
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