Die Tochter des Schmieds
vergißt die Hälfte. Sieh dir Sibel an, die macht immer
alles sofort, und dann erst setzt sie sich hin und malt ihre Bilder. Mein Gott, immer nur Bilder, dieses Mädchen hat nichts
anderes im Kopf.
Auch in der Schule träumt Gül oft vor sich hin, schaut aus dem Fenster oder betrachtet den abgeblätterten Lack am Rahmen.
Als sie auf dem Weg zum Krämer trödelt, sieht sie |142| neben einem halbrunden Stein etwas Farbiges. Sie geht näher und erkennt, daß es ein Geldschein ist. Zweieinhalb Lira. Wenn
sie ihrem Vater die Beine kratzt, bekommt sie zehn Kuruş, für die man sich Süßigkeiten kaufen kann oder eine kleine Tüte Sonnenblumenkerne.
Gül nimmt den Schein, steckt ihn sich in die Tasche, kauft beim Krämer für 40 Kuruş eine Packung Zigaretten und geht heim.
Sie gibt ihrem Vater die Zigaretten und die 60 Kuruş Wechselgeld und holt dann die zweieinhalb Lira hervor, hält sie ihm hin
und sagt:
– Das habe ich gefunden.
Ihr Vater sieht sie einen Moment prüfend an.
– Wo hast du das her?
Als hätte sie es nicht gerade gesagt.
– Ich habe es auf der Straße gefunden.
– Zweieinhalb Lira auf der Straße?
Gül ist ein wenig verwirrt und nickt eingeschüchtert.
– War der Krämer im Laden, als du reinkamst?
– Ja, sagt Gül, und sie versteht, worauf ihr Vater hinauswill.
– Ich habe es gefunden. Wirklich. Ich schwöre bei Gott.
– Wo?
– Auf der Straße. Vorne, beim Haus des Schreiners, neben einem Stein.
– Bist du dir sicher, daß du es gefunden hast?
– Ich kann dir den Stein zeigen.
Aus irgendeinem Grund scheint das den Schmied zu überzeugen. Er weiß, daß sie sich keinen Stein neben dem Haus des Schreiners
ausdenken kann. Das würde eher Melike ähnlich sehen. Er steckt die zweieinhalb Lira ein, gib ihr dafür fünfundzwanzig Kuruş
und sagt:
– Gewinn und Verlust sind Brüder. Sie treffen sich immer wieder. Sinnlos, einem von beiden hinterherzulaufen. Wenn du morgen
etwas verlierst, dann darfst du nicht traurig sein.
Manchmal hat Timur in der Schmiede tagelang nichts zu tun, trinkt Tee und spielt Karten mit seinem Gehilfen. Mit |143| den Dorfbewohnern macht er keine Geschäfte mehr, seit Tufans Neffe den Handel organisiert. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen,
daß der Schmied nicht mehr so wohlhabend ist wie früher. Da kann weder das Radio drüber hinwegtäuschen noch die Druckluftlampe.
Timur macht es nicht viel aus, weniger Geld zu haben, das einzige, was er wirklich vermißt, sind die Ausflüge in die große
Stadt. Doch er hofft auf den nächsten Herbst, die nächste Apfelernte. Vielleicht wird dann genug übrigbleiben, um ein paar
Tage wegzufahren.
Früher, wenn er in den Vergnügungslokalen Männer sah, die um die vierzig waren, hatte er immer gedacht: Was wollen die denn
hier, die alten Säcke. Diese Vergnügen sind doch für uns. Vor allem bei reichen Männern hatte er das gedacht, Männer mit eingefallenen
Schultern, Männer mit lichtem Haar und erdenschwerem Bauch. Er hatte sich oft gefragt, was sie überhaupt noch wollten auf
der Welt. Hatten sie nicht schon lange genug gelebt?
Damals war er zwanzig gewesen, und vierzig, vierzig, das hieß, daß sie doppelt so lange gelebt hatten wie er. Das sollte doch
genug sein. Und jetzt ging der Schmied auf die vierzig zu und konnte sich vorstellen, sechzig zu werden. Noch zwanzig Jahre?
Wieso nicht.
Es stört ihn also kaum, daß er weniger Geld hatte. Es stört seine Frau. Und es stört seine fast blinde Mutter, die immer sagt:
– Du mußt immer noch lernen, das Geld nicht zu verläppern, du darfst es nicht mit vollen Händen ausgeben, du mußt lernen,
Fäuste zu machen, das Geld festzuhalten.
Doch dazu hat er keine Lust. Lieber erzählt er lachend, wie im Winter eine Frau in seine Werkstatt gekommen ist, sich den
Schnee vom langen Mantel geklopft und kein Wort des Grußes gesprochen hat. Eigentlich kommen keine Frauen in seine Werkstatt,
das hier ist ein Platz für Männer. Mit Leuten, die er nicht kennt, fängt der Schmied oft ein Gespräch über Fußball an und
horcht die Männer aus. Die Beşiktaş-Fans |144| bekommen ihre Bestellungen eher als die Galatasaray- und Fenerbahçe-Anhänger. Doch diese Frau fragt er:
– Bitte?
– Mein Mann und ich waren in Ankara, sagt die Frau.
– Ja?
– Wir haben in einem Hotel geschlafen. Das hatte keinen Ofen. Da war so ein Eisending an der Wand, das hat den ganzen Raum
geheizt.
– Und?
– Könntest du uns nicht
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