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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Handrücken, daß dir Hören und Sehen vergeht.
    Nun schaut sie hoch, sieht ihn an. In seinen Augen glaubt sie sehen zu können, daß er sie nicht schlagen wird. Sie nimmt das
     Geld. Der Schmied legt ihr eine Hand auf die Haare, doch Gül zieht ihren Kopf weg, und ihr Vater wendet sich ab. Gül würde
     jetzt gern einfach fortlaufen, doch sie traut sich nicht. Sie sieht zu, wie ihr Vater wieder Richtung Werkstatt geht. Sie
     kann nicht weinen, sie kann nicht aufstöhnen, sie kann nicht gehen, sie steht einfach da. Da ist soviel, Trotz, Selbstmitleid,
     Wut, Angst, Liebe, sie kann nicht alles auf einmal fühlen.
     
    Am liebsten möchte Gül mit einer Schleife im Haar fotografiert werden wie alle anderen Mädchen. Es wird ihr erstes |147| Foto sein, auf dem nur sie drauf ist, sonst niemand, und sie möchte, daß es perfekt wird, daß die Schleife blütenweiß ist
     und genau sitzt. Also wäscht Gül die Schleife, aber ihre Mutter gibt ihr keine Wäschestärke, die ist nur für Festtage und
     Hochzeiten, nicht für Paßfotos für das Abschlußzeugnis. Also benutzt Gül Zuckerwasser, wie ihre Mutter es ihr rät, und ihre
     Schleife ist nach dem Trocknen tatsächlich steif, aber an den Stellen, wo der Zucker durch das heiße Plätteisen leicht karamelisiert
     ist, sind braune Ränder. Gül wäscht die Schleife noch mal, und auch wenn sie viel vorsichtiger ist als beim ersten Mal und
     das Plätteisen nicht so heiß, sind immer noch braune Ränder zu erkennen.
    – Geh, stell dich nicht so an, sagt ihre Mutter, das sieht man auf dem Foto sowieso nicht.
    Sie hat zwar recht, aber Gül glaubt ihr nicht, und nachdem die Schleife noch fünfmal gewaschen, gestärkt und geplättet wurde,
     fällt sie fast von alleine auseinander. Nachdem Gül den ganzen Abend vor Wut geheult hat, fragt sie am nächsten Tag in der
     Schule ihre Banknachbarin, die fast jeden Tag eine gestärkte Schleife im Haar hat, ob sie sich in der Mittagspause die Schleife
     leihen darf, um sich damit fotografieren zu lassen. Es kostet sie einige Überwindung, doch ihr fällt keine andere Möglichkeit
     ein.
    So trägt Gül auf den Fotos für das Abschlußzeugnis Nebehats Schleife im Haar. Jahrzehnte später wird sie jedes Mal, wenn sie
     dieses Foto sieht, daran denken, daß die Schleife in ihrem Haar nicht ihre eigene war, und sie wird ihr immer wie ein Fremdkörper
     vorkommen auf dem Bild. Als müsse jeder sofort merken, daß die Schleife nur geliehen ist.
    Die Fotos werden nie auf dem Zeugnis oder in den Karteikarten der Schule zu sehen sein. Gül versagt bei den Abschlußprüfungen
     und bleibt in ihrem letzten Schuljahr sitzen.
     
    Ihre Eltern machen keine große Sache daraus, daß sie sitzenbleibt. Sie ist ein Mädchen, sie kann lesen und schreiben, viele
     können nicht mal das. Der Schmied kann nur die arabische |148| Schrift lesen und hat selber keinen Abschluß, Arzu ist Analphabetin.
    Gül ärgert sich, daß sie durchgefallen ist, aber sie hat einfach nicht genug lernen können, weil sie nicht genug Zeit hatte.
     Sie weiß, daß sie nie so gut sein wird in der Schule wie Melike oder Sibel, aber wenn sie etwas mehr gelernt hätte, dann wären
     die Fotos auf das Abschlußzeugnis geklebt worden. So verschwinden sie in der Truhe ihrer Mutter. Der einzige, der wirklich
     betroffen zu sein scheint, ist Onkel Abdurahman.
    Abdurahman hat auch dieses Jahr wieder ein junges Mädchen aus dem Dorf bei sich, Yasemin. Sie ist ungefähr in Güls Alter,
     ein dunkelhäutiges, kräftiges Mädchen mit buschigen Augenbrauen, in bunten Kleidern, wie Zigeuner sie tragen. Sie ist ein
     wenig vorlaut, redet mit ihrem derben Dialekt dazwischen, wenn Erwachsene sich unterhalten, und manchmal entfahren ihr Flüche,
     die man sonst nur aus Männermündern hört. Abdurahman will ihr die schlechten Manieren abgewöhnen. Sie wird eine junge Dame
     sein, wenn sie in ihr Dorf zurückkehrt, sagt er.
    Und Gül will er begreiflich machen, daß es wichtig ist, einen Abschluß zu haben.
    – Mein Vater hat nicht genug Geld, uns alle auf die Mittelschule zu schicken, sagt Gül.
    – Wenn du jetzt nicht auf die Mittelschule kannst, gehst du eben später, sagt Abdurahman, wenn du mal Geld hast. Du bist ein
     kluges Mädchen, du kannst das schaffen. Möchtest du wieder einmal die Woche zum Lernen kommen?
    – Vielleicht, sagt Gül, weil sie sich nicht traut, nein zu sagen.
    Sie mag Onkel Abdurahman, er ist immer freundlich zu ihr, nennt sie meine Kleine, nimmt sich Zeit für sie und

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