Die Tochter des Schmieds
nicht so eine helle Haut wie du oder ich, sie war dunkel wie Melike, und sie hatte schöne
Augen.
Kaum hat sie das gesagt, muß sie an die Ringe denken, die tiefvioletten Ringe unter ihren Augen, als sie im Krankenhaus lag.
– Und ihre Haare, wie sahen ihre Haare aus?
In den nächsten Tagen sitzen Sibel und Gül viel zusammen. Gül erzählt, woran sie sich noch erinnern kann. Kleidet zum erstenmal
all die Bilder in ihrem Kopf in Worte. Und Melike setzt sich schon sehr bald zu den beiden und hört zu, ohne dazwischenzureden.
Gül kann sich an das Dorf erinnern, die Gewehre ihres Vaters, die Schlägerei auf dem Dorfplatz, daran, wie ihre Mutter gesagt
hat
Jetzt hast du mich totgekitzelt
, an das Krankenhaus, an Tante Hülya und Onkel Yücel.
Die Bilder sind so klar und scharf in ihrem Kopf, als wäre das alles gestern erst passiert. Sie sieht, wie ihr Vater den Löffel
wirft, und sie fühlt, was sie damals gefühlt hat. Sie sieht die Bilder nicht, wie sie sie damals gesehen hat, sie sieht alles
wie von oben, sie sieht sich selbst dort stehen, doch sie fühlt, was sie damals gefühlt hat.
|161| Und sie weint beim Erzählen. Auch in fünfzig Jahren noch wird sie die Bilder in aller Schärfe sehen, und sie wird die Gefühle
wieder und wieder durchleben, denn es wird ihr nicht möglich sein, die Gefühle von außen zu betrachten wie die Bilder.
Es wird schon bald zu einem Ritual, daß Sibel, Melike und Gül zusammensitzen und Gül von Fatma und von früher erzählt. Es
wird zu einem Ritual, das sie in den nächsten Jahren oft praktizieren. Doch Gül wird immer für sich behalten, wie Timur mal
drauf und dran war, Melike vom Dach des Stalls zu werfen.
Gül spielt also an den Samstagen mit Candan und glaubt, ihre gute Laune hätte ausschließlich mit Esras Tochter zu tun. Manchmal,
auf dem Nachhauseweg, wenn sie Mädchen in ihrem Alter sieht, die Seil springen oder Himmel und Hölle spielen, draußen in der
Kälte, auf einem Flecken, den sie vom Schnee befreit haben, dann fragt Gül, ob sie mitspielen kann. Obwohl sie sonst eher
schüchtern ist, an den Samstagen fällt es ihr leicht, zu fragen, und sie vergißt beim Spielen schnell die Zeit, das Wetter,
ihre Schwestern, ihren Vater, ihre Mutter, sie vergißt auch Candan und ruiniert sich bei Himmel und Hölle die Schuhe.
Als sie wieder einmal zu spät kommt, weil sie beim Spielen auch das Mittagessen vergessen hat, sagt ihre Mutter:
– Was willst du auch jede Woche bei fremden Menschen. Du fällst ihnen sicher zur Last.
Und selbst ihr Vater sagt:
– Du solltest nicht so oft dorthin gehen. Und nächstes Mal werde ich dich abholen, damit du nicht wieder so spät kommst.
So holt der Schmied seine Tochter am nächsten Samstag von Esra ab. Er hat seine guten Schuhe an und ist rasiert, obwohl er
sich am Wochenende sonst nie rasiert. In der darauffolgenden Woche haucht er sich in die Hände, als er in der Tür steht. Es
ist eine Geste, die Gül noch nie bei ihrem Vater gesehen hat.
|162| – Es ist kalt draußen, sagt der Schmied.
Esra bestätigt:
– Ja, der Herr hat uns einen harten Winter geschickt.
– Willst du nicht schon mal vorgehen? fragt Timur seine Tochter. Deine Mutter macht heute Börek, und sie kann deine Hilfe
bestimmt gut gebrauchen.
– Oh, das will sie bestimmt nicht, fällt Esra ein, bevor Gül antworten kann. Sie hat sich doch gefreut, heute mit ihrem Vater
nach Hause zu gehen.
Nur diese beiden Male holt ihr Vater sie ab, und Gül spielt in jenem Winter noch oft mit den fremden Mädchen Himmel und Hölle.
Sehr bald findet Gül heraus, warum diese Mädchen auf der Straße spielen. Bei ihnen zu Hause ist es nicht wärmer als draußen.
Als Arzu das gegen Ende des Winters erfährt, darf Gül samstags gar nicht mehr zu Esra.
– Was sollen die Leute reden, wenn du mit den armen Kindern spielst?
Das erste eigene Kleidungsstück, das Gül an der Nähmaschine näht, ist eine Unterhose aus dem Rest eines braunen mit orangefarbenen
Blumen bedruckten Stoffes. Gül näht eine Unterhose für Melike, doch sie nimmt die Unterhose nicht gleich mit heim, denn sie
möchte für jede ihrer Schwestern eine Unterhose nähen.
Im Frühling ist es soweit, sie hat vier Unterhosen fertig und freut sich, daß sie ihren Schwestern etwas schenken kann. Als
ihre Mutter die Unterhosen sieht, eine braune mit Blumen bedruckte, eine purpurne, eine zitronengelbe und eine froschgrüne
mit blauem Tropfenmuster, sagt sie:
–
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