Die Tochter des Schmieds
buschige, schwarze Schnauzer. Die jungen Männer, denen die marmorierten
Plastikkämme aus den Hintertaschen schauen und in deren Blicken verstohlen das Begehren aufblitzt.
Wenn Gül mal etwas später kommt, verliert Esra kein Wort darüber. Das ist schöner als in der Schule, wo sie immer pünktlich
sein mußte. Während Esra Gül das Nähen beibringt, spart sie nicht mit Lob und wird nie ungeduldig, wenn |156| etwas nicht sofort klappt. Abends sitzt Gül nun oft im Schein der Druckluftlampe mit der riesigen, angerosteten Schere ihrer
Mutter da und schneidet alte Zeitungen so zurecht, daß sie wie die Schnittmuster aussehen, die bei Esra Abla herumlagen und
nun fein säuberlich in Pappschachteln verpackt sind. Esra Abla, sagt Gül zu ihr, große Schwester Esra. Sie sagt das, weil
Esra das möchte, denn wenn jemand sie Tante Esra nennt, kommt sie sich so alt vor. Endlich hat Gül auch jemanden, zu dem sie
Abla sagen kann wie ihre Geschwister zu ihr.
Obwohl man nicht oft Leute sehen kann, die Zeitung lesen, sind Zeitungen doch allgegenwärtig. Der Krämer schlägt seine Waren
in Zeitungspapier ein und der Metzger, Timur benutzt es manchmal, um morgens das Schmiedefeuer anzufachen. Arzu legt die Schränke
damit aus. Wenn Gül etwas aus dem Schrank holt, bleibt sie gelegentlich an ein oder zwei Worten hängen. Mord. Totschlag. Unglückliche
Liebe. Blutrache. Unschuldige Kinder. Und dann versinkt Gül in diesen Zeitungsartikeln, rückt die Gläser vorsichtig hin und
her, hebt die Teller an, kriecht fast in den Schrank hinein, wenn der Text auf dem Kopf steht und sie ihren Kopf wenigstens
schräg halten muß, damit sie die ungewohnt wirkenden Buchstaben zu Wörtern zusammenfügen kann.
Wenn dann ihre Mutter ruft, schreckt sie mittlerweile nicht mehr auf und stößt sich den Kopf an. Einige Male ist ihr das passiert,
doch seit einiger Zeit merkt sie sich die Stelle, an der sie aufgehört hat, und liest später weiter.
Sibel schneidet die weißen Ränder der Zeitungen ab und zeichnet auf diesen dünnen Streifen mit einem ganz spitzen Bleistift
Tiere im Miniaturformat, und ihre Mutter schimpft, sie würde sich die Augen verderben. Doch es ist nie genug Papier für sie
da, und auch mit ihren wenigen Buntstiften muß sie sparsam umgehen, bis Onkel Abdurahman mitbekommt, wie talentiert sie ist.
Seitdem kauft er ihr Stifte und Papier, damit sie nicht mehr beide Seiten eines Blattes bemalt.
|157| Und so hat Gül die Zeitungen wieder für sich und sitzt nun abends mit der Schere in der Hand da, und manchmal vergeht eine
halbe Stunde, bevor sie den ersten Schnitt tut. Ihre Schulbücher waren lange nicht so spannend.
– Schneid, wenn du schneiden willst, sagt ihre Mutter dann oft, was liest du Zeitung, als seiest du ein erwachsener Mann?
Gül sieht außer Onkel Abdurahman kaum jemanden, der in der Öffentlichkeit Zeitung liest, und sie hat wahrhaftig noch nie eine
Frau gesehen, die das tut. Wenn ihre Mutter sie so ermahnt, fängt Gül langsam an zu schneiden, das Geräusch der Schere reicht
aus, damit ihre Mutter woanders hinsieht, und Gül versucht weiterzulesen, während sie am Rand der Texte entlangschneidet.
Sie liest Artikel über Brudermord, Familienehre, über Babys mit zwei Köpfen und die verderbten Kinder der Reichen. Die Leitartikel
und die Beiträge über Wirtschaft, Politik und Fußball und die Kolumnen zerschneidet sie ungelesen.
Als Gül zum ersten Mal an der Nähmaschine sitzt und versucht, gleichzeitig zwei Stoffstücke unter der Nadel durchzuziehen,
kommt sie kaum an das Pedal, das sie gleichmäßig treten muß, damit die Maschine rund läuft. Noch schwerer fällt es ihr, die
Bewegungen ihrer Füße und Hände zu koordinieren. Sie braucht lange, um es zu lernen, länger als jemand anders an ihrer Stelle
wohl gebraucht hätte. Es wird Monate dauern, bis sie der Maschine dieselben gleichmäßig schnurrenden Geräusche entlockt wie
Esra. Doch sie wird noch oft an diesen ersten Tag denken. Sie wird sich an ihn erinnern, wenn sie Jahre später in Deutschland
an einer elektrischen Nähmaschine sitzt und im Akkord Büstenhalter näht. Vierhundert bis vierhundertfünfzig Stück am Tag,
während ihre Kolleginnen selten mehr als dreihundertfünfzig schaffen.
Es wird ein wenig dauern, bis sie Esras Maschine beherrscht, doch das Nähen wird ihr Freude bereiten. Und einen sanften Nachklang
dieser Freude wird sie auch dann noch empfinden, wenn sie mit siebzig
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