Die Tochter des Schmieds
kann
sie nicht mehr im Garten sitzen, unter Aprikosenbäumen oder am Brunnen. Jetzt steht sie morgens mit allen anderen auf, hilft
ihrer Mutter, das Frühstück zu machen, verabschiedet ihre Schwestern, spült ab, hilft bei der Zubereitung des Mittagessens.
Wenn alles erledigt ist, spielt sie mit Nalan und Emin, manchmal geht ihre Mutter weg, zu einer Nachbarin oder Freundin, und
läßt Gül mit ihren Geschwistern allein zu Hause.
Es ist langweilig, aber Gül ist nicht unzufrieden. Unzufrieden scheint eher ihre Mutter zu sein, die öfter gereizt ist und
Gül wegen Kleinigkeiten anfährt. Vielleicht sind es ihr zu viele Kinder, die ihr dauernd um die Füße herumwuseln, vielleicht
hat es auch andere Gründe. Auf jeden Fall sagt sie eines Abends zu ihrem Mann:
– Sie sollte nicht untätig zu Hause sitzen und sich an Müßiggang gewöhnen. Sie sollte ihre Zeit besser nutzen. Wir könnten
sie zur Schneiderin schicken, damit sie etwas lernt.
|154| Eine Woche später nimmt Timur Gül morgens mit zur Schneiderin. Esra ist etwa zehn Jahre älter als Gül und hat zu Hause ein
Arbeitszimmer. Es kommen sehr viele Kundinnen zu ihr, lassen sich Kleider nähen, Pumphosen, Blusen. Esra näht Brautkleider
und Unterwäsche, und sie kürzt oder weitet auch die Hosen der Männer, wenn die Frauen sie vorbeibringen. Männerkleidung ist
eigentlich nicht ihr Gebiet. Wie sollte eine anständige Frau auch Maß nehmen bei einem erwachsenen Mann, sie müßte ihn ja
überall anfassen.
Wild verstreut liegen im Arbeitsraum Stoffreste umher, Schnittmuster, noch nicht beendete Kleidungsstücke, Rollen mit Nähgarn,
Nadelkissen, Maßbänder, Stoffkreide, Sicherheitsnadeln, Scheren.
– Hallo, sagt Esra, du bist also Gül.
Gül nickt schüchtern.
– Hab keine Angst, sagt Esra, ich werde wie eine Schwester für dich sein, wir werden gut miteinander zurechtkommen.
– Ich werde dann mal, sagt Timur, der seltsam steif wirkt in Gegenwart dieser jungen Frau. Er setzt seine Mütze auf und ist
weg.
Esra setzt sich wieder an die fußbetriebene Nähmaschine, denkt aber noch nicht daran, zu arbeiten.
– Du wirst also meine kleine Gehilfin werden, sagt sie zu Gül.
Sie hat ein rundes Gesicht mit einigen Sommersprossen und sehr vollen, aber blassen Lippen. Ihre braungrünen Augen wirken
auf den ersten Blick fast schon stechend. Gül findet Esra wunderschön.
– Komm, sagt Esra, steht auf und hält Gül ihre Hand hin, komm, ich werde dir erst mal Candan vorstellen.
Zusammen gehen sie ins Nebenzimmer, wo auf einer kleinen Matratze ein etwa zweijähriges Mädchen liegt und schläft.
– Sie ist krank, sagt Esra, mein armes Lamm ist krank geworden. Aber jetzt hat sie ja dich als Abla, die sich ein wenig um
sie kümmern kann, nicht wahr?
Gül lächelt zum ersten Mal, und Esra sagt:
|155| – Und jetzt zeige ich dir alles andere.
Innerhalb von drei Tagen herrscht in dem Nähzimmer eine neue Ordnung, die Stoffe liegen in akkuraten Stapeln, die unbenutzten
Maßbänder sind aufgerollt, die Rollen mit Nähgarn sind in einer alten Blechkiste, ebenso farblich geordnet wie die Stecknadeln
auf den Nadelkissen. Gül macht es Freude, für alles einen Platz zu finden und nie lange suchen zu müssen, wenn Esra etwas
braucht.
Es ist ein bißchen, als würde sie zur Schule gehen. Bald nach ihren Schwestern verläßt Gül das Haus, mittags kommt sie heim,
ißt, spielt ein wenig und geht dann wieder zu Esra. Manchmal trödelt sie unterwegs, guckt sich Steine an, unter denen Geld
liegen könnte, oder schaut den etwas reicheren Frauen hinterher, die gerade auf dem Weg zur Hauptstraße sind, um einzukaufen
oder in der Konditorei Torte zu essen. Torte, Melike hat bei Sezen schon mal welche gegessen, aber Gül kennt nur den Namen.
Torte, das ist der Inbegriff von Luxus, etwas, das Frauen essen, die im Winter Pelze tragen. Gül schaut den Damen hinterher,
den kunstvoll aufgetürmten Frisuren und den Schuhen mit den Absätzen, sie schaut diesen Frauen hinterher, die Brigitte Bardot,
Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe im Kino gesehen haben, sich aber in diesem Land nicht so freizügig geben können. Und sie
bemerkt, wie die jungen Männer, die Brillantine im Haar haben, ebenfalls diesen Frauen hinterhersehen, während sie so tun,
als würden sie lässig an der Straßenecke stehen und Zigaretten rauchen. Die jungen Männer, die schon Schnurrbärte haben, manche
eher dünne, flaumige wie ihr Onkel Fuat, aber manche
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