Die Tochter des Schmieds
Geh. Wer soll das denn anziehen? Das sind ja Farben, wie Zigeuner sie tragen.
Gül, Sibel, Nalan und Melike stehen da, Sibel und Nalan mit ihren Unterhosen in der Hand, Melikes liegt auf dem Boden. Noch
bevor Gül die Tränen kommen können, noch bevor irgend etwas passieren kann, sagt Melike:
– Die zieht man doch drunter. Das sieht doch sowieso keiner. |163| Ich ziehe meine auf jeden Fall an, da kann mich niemand dran hindern.
So tragen die Schwestern im Frühling Unterhosen, die zwar leuchten, die aber niemand sehen kann.
Eines Tages kommen Melike und Sibel kichernd zu Gül und sagen:
– Oma sieht nichts mehr.
– Ihre Augen sind nicht mehr so gut, sagt Gül.
– Nein, sagt Melike, sie sieht gar nichts mehr.
– Woher willst du das wissen?
– Ich habe mich hingesetzt, so unschicklich, ich habe die Beine aufgemacht und Sibel auch, und man konnte uns unter den Rock
sehen, auf die bunten Unterhosen. Und Oma hat die Unterhosen nicht gesehen, sie hat nicht mal gesehen, daß wir unschicklich
saßen.
Zeliha erkennt das Geld, das sie in der Hand hält, sie kann die Scheine und Münzen aufgrund ihrer Größe auseinanderhalten.
Die Menschen erkennt sie mittlerweile am Geräusch ihrer Schritte, doch sehen kann sie kaum noch. Würde ihre Tochter nicht
bei ihr wohnen, hätte sie Schwierigkeiten, ihren Alltag zu regeln. Hülya erledigt alles, wofür man Augen braucht, und Zeliha
verbringt ihre Zeit im Schneidersitz, den Rücken mit einem großen, harten Kissen gestützt. Ein Glas Tee in der einen Hand,
eine Zigarette in der anderen, kommandiert sie die Leute herum. Fenster auf, Fenster zu, neuen Tee aufsetzen, ihr ein Glas
Wasser bringen oder Feuer geben, Zigaretten kaufen beim Krämer. Irgend etwas muß Gül immer tun, wenn sie dort ist, und ihren
Schwestern und ihrer Mutter ergeht es nicht anders. Zeliha scheint Vergnügen daran zu finden, möglichst vielen verschiedenen
Menschen Anweisungen zu geben.
Ihren Enkeln ist sie noch unheimlicher, seitdem sie blind ist und sich so wenig bewegt. Seit sie nicht mehr sieht, ist auch
ihre Stimme noch dunkler geworden, weil sie mehr raucht, wenn sie weniger zu tun hat. Gül mag ihren schweren Geruch nicht,
ihren Geruch nach Rauch und altem Schweiß, nach |164| Teer und ein wenig nach dem abgegriffenen Geld, das sie in einem Bündel in ihrem Strumpf trägt.
Zeliha bekommt Geld von Timur, und sie läßt Hülya das eine oder andere kleine Geschäft tätigen, ein paar Walnüsse verkaufen,
ein halbes Kilo getrockneten Traubensaft, selbstgemachte Marmelade, ein paar alte Kupfernäpfe. Diese Frau, die nie eine Schule
besucht hat, kann gut rechnen, sie kann sich Preise und Gewinnspannen merken, sie verleiht Geld, um an den Zinsen zu verdienen,
und Hülya ist erstaunt, daß ihre Mutter sich immer genau merken kann, wer ihr wieviel schuldet.
Manchmal holt Zeliha ihr Bündel hervor und zählt langsam und bedächtig das Geld, die Zigarette im Mundwinkel, den Blick geradeaus
gerichtet und ein leises Lächeln um die faltigen Lippen. Die Jahre haben Furchen in ihr Gesicht gegraben, tiefe Furchen, eine
senkrechte dunkle Zornesfalte knapp oberhalb ihrer Augenbrauen, zwei Striche, die sich von ihren Nasenflügeln zu den Mundwinkeln
runterziehen, und auf ihren Wangen sind zahlreiche Runzeln.
Güls andere Großmutter, Berrin, Arzus Mutter, ist viel jünger und hat ein nahezu glattes, rundes Gesicht. Doch zu Berrin Oma
nimmt ihre Mutter meistens nur Emin und Nalan mit. Wenn sie dort ist, fühlt Gül sich nicht ganz wohl, obwohl Berrin Oma freundlich
ist und viel lacht. Es sind ihr zu viele andere Menschen dort, ihr Großvater Faruk, der oft nach Schnaps riecht, ihr Onkel
Fuat, Fuats ältere Brüder Levent und Orhan, die schon verheiratet sind. Ihre Großeltern haben ein großes Haus, und Gül fühlt
sich fremd unter so vielen Leuten, die sich gut kennen. Und die ihr selten besondere Beachtung schenken.
Melike hat ein Abschlußzeugnis. Auf dem Paßfoto trägt sie Sezens Schleife in ihrem Haar, eine große, geschwungene Schleife,
die vor lauter Stärke so steif ist, daß sie fast abbricht, wenn man dagegenkommt. Eine besonders gute Schülerin ist Melike
zwar nicht gewesen, aber sie ist nicht sitzengeblieben, |165| und sie kann gut auswendig lernen. Ein paar Tage vor den Prüfungen hat sie alle mit ihrer Art einzulernen genervt. Sie nimmt
ihr Buch und liest es im Gehen, sie muß durch das ganze Haus wandern, sie kann nicht stillsitzen
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