Die Tochter des Schmieds
anderen Frauen in |158| einem Raum sitzt und sich Toilettenpapier in die Ohren steckt, damit der Lärm erträglich wird.
Ich habe keine Angst vor Arbeit, wird sie später immer sagen. Ich habe gelernt, daß ich jeden Berg Arbeit auf meine Schultern
laden kann, ohne darunter zusammenzubrechen. Aber sie wird nicht erzählen, wie beleidigt sie sein kann, wenn niemand diese
Arbeit zu würdigen weiß.
Im Moment hilft sie nicht nur ihrer Mutter bei der Hausarbeit, lernt nähen und paßt auf Nalan und Emin auf, sondern auch auf
Esras Tochter Candan.
Candan ist ganz vernarrt in Gül, und Gül kauft ihr manchmal von dem Geld, das sie von ihrem Vater für das Wadenkratzen bekommt,
Sesamkringel oder Süßigkeiten. Sie hofft, daß Nalan und Emin das nie erfahren. Sie liebt ihre Geschwister, ja, aber Candan
liebt sie auf eine andere Art. So wie man nur Menschen lieben kann, die einem nicht so nahe sind.
Noch immer sind die paar Kuruş, die ihr Vater ihr für das Wadenkratzen gibt, das einzige Geld, das sie erhält. Für die Arbeit
bei der Schneiderin wird sie nicht bezahlt. Sie erlernt als Lohn einen Beruf.
Ebenso ergeht es ihrem Onkel Fuat, der bei einem Friseur arbeitet und mal einen eigenen Laden haben möchte. Von so etwas kann
Gül nicht träumen, aber vielleicht heiratet sie einen Mann, der ihr eine Nähmaschine kauft.
Eines Samstags, nachdem sie Staub gewischt hat, Windeln gewaschen, den Abwasch erledigt, sagt Gül zu ihrer Mutter:
– Ich gehe zu Esra Abla.
– Aber heute ist Samstag.
– Ich vermisse Candan so, ich spiele nur kurz mit ihr, dann komme ich sofort wieder.
– Oh, mein Gott, sagt ihre Mutter, als gäbe es nicht genug andere Kinder zum Spielen.
Doch sie läßt Gül gehen, an diesem Samstag und auch an den folgenden. Jedesmal, wenn sie sich sehen, läuft Candan Gül in die
Arme, und manchmal stellt Gül sich vor, es wäre ihre eigene Tochter. Aber wo wäre dann der Mann dazu?
|159| Eigentlich will sie keinen Mann, sie will nur eine Tochter. Gül ist gut gelaunt, wenn sie mit Candan gespielt hat, sie fühlt
sich wohl und glaubt, es hätte nur mit Esra Ablas Tochter zu tun. Nicht damit, daß sie nicht zu Hause ist, daß niemand ihr
etwas aufträgt, daß sie nicht schwer tragen muß und nicht Streit schlichten.
Melike und Nalan tun sich eines Tages zusammen, um Sibel zu ärgern. Sie machen ihr alles nach, laufen hinter ihr her, imitieren
jede ihrer Bewegungen, und als Sibel sich in die Ecke setzt, um zu malen, was immer ihr Weg ist, allem zu entkommen, sind
Nalan und Melike kurz ratlos, bis Melike anfängt,
Picasso, Picasso, Mona Lisa
zu sagen, Nalan stimmt mit ein, und sie wiederholen diese Worte so lange, bis Sibel die Tränen kommen.
– Laßt sie doch, bitte. Wenn ihr Gott liebt, dann laßt sie doch in Ruhe, sagt Gül.
Wie ihre Mutter und die Nachbarinnen es immer sagen: Wenn du Gott liebst, wirst du mir das nicht antun. Wenn du das jetzt
machst, dann sollst du bei meiner Leichenwache sitzen. Iß doch noch einen Happen, aus Liebe zu mir, aus Liebe zu Gott, aus
Angst vor meinem Tod. Die Sprache der Erwachsenen ist voller solcher Übertreibungen, die die Kinder gern übernehmen.
Doch Gül kann die beiden nicht davon abhalten, Sibel zu ärgern, die schließlich mit tränenerstickter, dünner Stimme hervorstößt:
– Ihr seid sowieso immer gegen uns. Nur weil ihr eine andere Mutter habt.
Nalan versteht nicht, was Sibel gemeint hat, und Melike lacht sie einfach nur aus. Gül nimmt Sibel in den Arm, um sie zu trösten.
Als die Tränen langsamer fließen, versucht sie ihrer achtjährigen Schwester zu erklären, auf welche Weise sie miteinander
verwandt sind.
– Du hast da etwas falsch verstanden, mein Schatz. Melike, du und ich, wir haben eine andere Mutter. Du warst noch ganz klein,
du warst ein Baby, als sie gestorben ist.
|160| Sibel hört auf zu weinen. Die Tränen haben helle Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.
– Nachdem unsere Mutter gestorben ist, hat Vater wieder geheiratet, und so haben wir eine neue Mutter bekommen, und dann kamen
Nalan und Emin.
– Sie ist gar nicht unsere richtige Mutter?
– Nein, sie ist unsere Stiefmutter.
– Und woran erkennt man das?
Gül braucht einen Moment, ehe sie antwortet:
– Gar nicht.
– Und woher weißt du dann, daß sie nicht unsere richtige Mutter ist?
– Ich … Ich war schon größer, als unsere Mutter gestorben ist.
– Wie sah unsere Mutter denn aus?
– Ein bißchen wie Melike. Sie hatte
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