Die Tochter des Schmieds
dreizehn Jahre älter als Gül, ich habe mein Bestes getan. Nie habe ich mich dem
Mann verweigert, aber habe ich jemals bekommen, was ich wollte?
Es dauert sehr lange, bis Gül einschläft, sie würde sich gern den Stoff kaufen, den sie in der Stadt gesehen hat, einen dunkelblauen
Stoff, der wie Samt schimmert. Aus dem möchte sie sich ein Kleid nähen. Ein richtiges, schickes Kleid, nur für sich. So wie
Özlem eins hat. Oder die Töchter der Frauen, die Torte essen. Sie hätte gerne ein nachtblaues Kleid und eine Schleife in ihrem
Haar, eine Schleife gestärkt mit Wäschestärke. Die |170| Schuhe dazu mit den kleinen, silbernen Schnallen wird sie sich nicht kaufen können. Doch das Kleid könnte sie selber nähen.
Wenn sie das Geld für den Stoff hätte. Sie hat gearbeitet wie alle anderen.
Ich frage ihn nicht, denkt sie, ich frage ihn nicht nach einem Pelzmantel für Mutter. Ich sage ihr einfach, ich hätte es getan.
Wenn sie selbst nachfragt, kauft er ihr den Mantel sowieso nicht. Warum sollte sie einen Pelzmantel bekommen, wenn ich nicht
mal Geld für Stoff bekomme?
Doch wenn sie ihren Vater nicht fragt, müßte sie lügen. So wie Özlem damals, wie Özlem und ihre Großmutter. Und sie kann nicht
lügen. Ihr wird dann immer heiß, und sie glaubt, alle könnten sehen, wie sie schwitzt.
Aber es wäre ja keine richtige Lüge. Weil es nur gerecht wäre. Es wäre gerecht, wenn sie beide nichts bekämen.
Laß die anderen ruhig, wir machen so etwas nicht. Das waren die Worte ihrer Mutter. Wir lügen und betrügen nicht. Wir sind
ehrlich, auch wenn uns dadurch ein Nachteil entsteht. Uns bleibt immer noch die Rechtschaffenheit. Aber Gül hätte dieses Mal
lieber ein Kleid.
Fünf Wochen später sind sie wieder im Stadthaus, Arzu hat einen schwarzen Pelzmantel, der ihr bis über die Knie reicht, und
der Schmied ist nicht in Istanbul gewesen.
– Geh, wofür braucht sie denn einen Pelzmantel, hat Timur gesagt, und Gül hat geantwortet:
– Aber sie wünscht ihn sich so sehr. Sie würde sich bestimmt sehr freuen.
Arzu hat sich gefreut, sie hat Gül versprochen, mit ihr Torte essen zu gehen. Sobald es kalt wird. Gül war noch nie Torte
essen, und sie würde sich ja auch freuen. Wenn sie etwas hätte, das sie zum Torteessen anziehen kann.
Jeden Tag betrachtet sie nun die Stoffreste bei Esra und überlegt, wie man aus den Resten ein Kleid nähen könnte. Esra, die
ihren suchenden Blick bemerkt, fragt:
– Was würdest du dir denn gerne nähen?
|171| – Nichts, sagt Gül, ich gucke nur, was so übrig ist.
– Ein Kleid vielleicht? rät Esra.
Einen Augenblick lang fühlt Gül sich ertappt, doch es dauert nur diesen Moment, bis sie antwortet:
– Nein, nein, kein Kleid.
Mehr als eine Woche später räumt Gül gerade die Nähstube auf, während Candan bei ihrer Mutter quengelt, daß sie raus möchte.
Esra hat viel zu tun, doch sie scheint dem Wunsch ihrer Tochter nachzugeben und fragt Gül:
– Sollen wir einkaufen gehen?
– Geh du nur, sagt Gül. Ich räume noch weiter auf.
– Laß uns zusammen gehen. Komm, meine Süße, zieh dich an.
Gül weiß nicht genau, was sie davon halten soll. Esra hat sie noch nie mitgenommen, wenn sie Einkäufe macht.
Esra geht ein kleines Stück vor, Gül hat Candan auf dem Arm, die ihren Kopf an Güls Schulter gebettet hat. Die Sonne scheint,
der Himmel ist klar, doch es ist kalt, das Laub ist schon von den Straßen geweht, und Gül fragt sich, ob ihr Vater Nalan wohl
auch allein lassen würde, wenn er sie zum Laubfegen mitgenommen hätte.
– Laß Candan alleine gehen, sagt Esra zum zweiten Mal.
Und obwohl es Gül anstrengt, die Kleine so lange zu tragen, läßt sie sie nicht hinunter.
Als Gül den Jungen erkennt, der ihnen entgegenkommt, bleibt sie stehen. Auch er bleibt stehen, drei, vier Schritte trennen
sie. Gül bemerkt den dichten Flaum auf seiner Oberlippe. Einen Moment lang hat sie Angst, sie hat Angst, sie könnte in seine
blauen Augen hineinfallen. Ihr Herz schlägt sehr schnell, doch sie kann sich nicht bewegen.
– Hallo, sagt Recep, aber Gül kann nicht antworten.
Was macht er hier in der Stadt? Wie lange hat sie ihn nicht mehr gesehen? Warum kann sie sich nicht freuen und einfach mit
ihm sprechen? Und warum senkt sie jetzt ihren Blick?
– Gül, hört sie Esra rufen, die stehengeblieben ist und sich umgedreht hat.
|172| Ohne Recep noch mal ins Gesicht zu sehen, geht Gül an ihm vorbei, sie läuft nicht, sie geht, so
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