Die Tochter des Schmieds
lange vor dem Hochzeitstermin fertig. Draußen ist es kalt, bitter kalt, zuerst fällt Schnee, daß man knietief
darin versinkt, und dann friert der Bach zu. Melike, Sibel und Nalan, die jetzt schon in die zweite Klasse geht, bekommen
vierzehn Tage schulfrei. Doch dieses Mal kann Melike es nicht lange genießen, es gibt viel zu tun, den Nachbarn und Verwandten
wird Bescheid gesagt, Musiker werden bestellt, auch die Schwestern müssen etwas Schönes zum Anziehen haben, sonst werden sie
zum Gespött der Leute. Arzu meint, sie bräuchte unbedingt neue Schuhe, Timurs guter Anzug soll in die Reinigung, beim Kaufmann
müssen Bestellungen gemacht werden. Melike wird in der Kälte hierhin und dorthin gescheucht, zumindest kommt es ihr so vor,
und sie wünscht sich fast, es wäre wieder Schule. Sie will weg hier, sie will weg, aber nicht auf die gleiche Art wie ihre
große Schwester.
Am Morgen des dritten Dezember schlägt Gül die Augen auf, und ihr erster Gedanke ist: Das ist das letzte Mal, daß ich hier
aufwache. Sie sieht von ihrem Bett aus Nalan, Melike und Sibel an. Sie wird sie zurücklassen, sie wird Sibel und Melike nicht
mehr beschützen können. Nie wieder wird sie morgens beim Aufwachen diesen beißenden Uringeruch in der Nase |210| haben, nie wieder wird sie Sibel morgens nötigen, wenigstens die Hälfte ihres Frühstückseis zu essen, damit sie kräftiger
wird. Nie wieder wird sie mit ihnen den Ball aus der Truhe ihrer Mutter holen und damit in der Wohnung spielen. Aber bestimmt
werden sie noch manchmal zusammensitzen, und sie wird von ihrer leiblichen Mutter erzählen. Gül bleibt ja in der Nähe, und
sie wird oft heimkommen. Es wird ein Magen weniger zu füllen sein, und Melike wird auf die Oberschule gehen können.
Gül starrt an die Decke, und die Tränen laufen ihr leise die Augenwinkel hinunter. Niemand sieht es, und später, wenn es jemand
sehen könnte, wird sie nicht mehr weinen. Wieso sollte sie auch. Sie heiratet. Es ist der Tag, auf den sie sich in den Fotoromanen
immer freuen, der Tag, von dem ab alles gut wird. Doch in den Fotoromanen kommen nie Halbwaisen vor.
Gül wird nicht weit weg wohnen, und alles wird gut werden. Allmächtiger, gewähre mir Geleit, betet sie. Dein Wille geschehe,
doch schütze mich bitte vor Gefahren.
Den Rest des Tages sind Leute um sie herum. Zuerst wird Gül in das Haus einer Nachbarin gebracht, wo sie jemand frisiert.
Nicht nur ihre glatten Haare werden mit der heißen Brennschere aufgedreht, sondern auch die ihrer Schwestern, sogar ihre Mutter
und Tante Hülya haben sich entschieden, heute abend keine Kopftücher zu tragen. Nur Zeliha schert sich nicht darum, wie sie
aussehen wird.
Da nicht genug Brennscheren vorhanden sind, werden die Stiele der kleinen Kupfergefäße, in denen man normalerweise Kaffee
kocht, in die Kohlen geschoben. Melike ist zu ungeduldig, und schon bald riecht es nach verbrannten Haaren, aber Melike gibt
keinen Ton von sich, man sieht sie nur, die Tränen der Wut.
Alles, was die Tradition erfordert, wird getan. Als die Braut zu Hause abgeholt werden soll, stellt Melike sich vor die Tür
des Brautzimmers und versperrt den Weg. Erst nach einem Trinkgeld |211| gibt sie die Tür frei. Der Schmied bindet Gül eine rote Schärpe um die Hüften als Zeichen dafür, daß er seine Tochter als
Jungfrau aus dem Haus gibt.
Jahre später wird Gül bei der offiziellen Eröffnung einer Schnellstraße dabeisein, und in dem Augenblick, als der Bürgermeister
das rote Band durchschneidet und verkündet, daß diese fünfundzwanzig Kilometer Asphalt ein großer Schritt in die Zukunft sind,
wird Gül sich an ihre Hochzeit erinnern.
Als Gül in das Haus des Bräutigams geführt wird, reicht man dem Paar Brot und Honig, damit es ihnen an nichts mangeln möge
und sie einander das Leben mit süßen Worten verschönern.
Der Tag geht schnell herum, die ganze Zeit sind Menschen um sie, die Gül etwas mit auf den Weg geben wollen oder ihr prophezeien,
in welcher Weise sich ihr Leben ändern wird. Doch Gül kann sich nicht konzentrieren, ihr wird ganz schwindelig von all den
Worten und Geräuschen.
Abends im Festsaal gibt es laute Musik, einen Trommler und einen Mann, der die Zurna bläst, Kinder tollen umher, Mädchen in
Nalans Alter führen ihre Bauchtanzkünste noch ganz ohne Hemmungen vor und ahnen wahrscheinlich nicht mal, daß es sich für
sie sehr bald nicht mehr schicken wird, die Hüften in der
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