Die Tochter des Schmieds
entgeht Gül nicht, doch sie kann es sich nicht erklären. Aufmerksam beobachtet sie diese Frau und ihren
Vater und ihre Schwestern und ihre alte Lehrerin, damit sie nicht darüber nachdenken muß, wie sie sich fühlt, damit sie nicht
merkt, wie heftig ihr Herz schlägt und daß sich ihre Kehle anfühlt, als würde sie nicht laut sprechen können. Gül kommt sich
sehr klein vor bei diesem großen Fest.
– Na, du kleine Ausreißerin, sagt plötzlich jemand, und |214| Gül dreht den Kopf. Der Siebmacher scheint kaum gealtert zu sein, seit er sie auf seinen Schultern durch die ganze Stadt getragen
hat.
– Guten Abend, sagt Gül.
– Die Tochter des Schmieds heiratet also, sagt der Siebmacher, ihr seid ja auch vier Schwestern mittlerweile, aber wenigstens
habt ihr noch einen kleinen Bruder, nicht wahr?
Er beugt sich zu Gül runter und nähert seinen Mund ihrem Ohr, Gül kann den Anisschnaps in seinem Atem riechen.
– Viel Glück wünsche ich euch. Und wenn du verlorengehen solltest, dann kannst du gerne wieder zu mir kommen.
Er lacht, als er sich aufrichtet.
– Danke, sagt Gül etwas verwirrt.
Eine Kapelle spielt auf, und als das Brautpaar tanzt, legt Gül ihren Kopf an Fuats Schulter. Vielleicht weil sie glaubt, daß
das von ihr erwartet wird, vielleicht weil sie ein wenig müde ist, vielleicht weil sie so ihr Gesicht verstecken kann. Sie
atmet seinen Geruch ein, er riecht gut, ihr zukünftiger Mann. Nein, nicht mehr ihr Zukünftiger, sondern der Mann an ihrer
Seite. Sie gehören jetzt zusammen. Er wird dasein, er wird immer für sie dasein. Bis auf … So weit kann sie gerade nicht denken,
es ist zu anstrengend. Sie braucht den Gedanken nicht mal zu verdrängen, er verschwindet von allein.
Nach der Feier werden sie mit einem Auto zum Haus ihrer Schwiegereltern gefahren, wo sie in einem Zimmer im ersten Stock wohnen
werden. Vor der Haustür warten schon Fuats Brüder und Freunde, die ihm, bevor er hineingeht, fest auf den Rücken klopfen,
um ihm Kraft zu geben für die Hochzeitsnacht. Lachend trägt Fuat Gül über die Türschwelle, er trägt sie bis ins Zimmer hoch.
Dort legt er sie auf das Bett, das Güls Vater geschmiedet hat, und zieht sich die Krawatte, das Jackett und das Hemd aus.
Gül liegt bewegungslos da und sieht Fuats dicht behaarte Brust aus den Augenwinkeln. Unter den lockigen schwarzen Haaren ist
die Haut kaum zu erkennen. Als Fuat das Licht löscht, beginnt Gül sich langsam auszuziehen. Sie weiß nicht, |215| ob sie aufgeregt ist, der ganze Tag war zuviel für sie, es ist ein wenig so, als wäre sie selbst gar nicht dabeigewesen, alles
ist an ihr vorbeigerauscht.
Als sie kurz darauf die Augen schließt, kann sie Fuats Brusthaare spüren, die sich rauh anfühlen. Rauh und wie ein Schutzpanzer,
der verhindert, daß sie bis zu ihm vordringt. Ein Schutzpanzer, den sie jetzt auch gern hätte.
Am nächsten Morgen ist ein wenig Blut auf dem Laken, und Gül hofft, daß es nur das erste Mal weh tut. Abends wird ihre Hoffnung
enttäuscht. Esra hat sie angelogen.
Vierzig Tage, vierzig Tage wohnt sie mit Fuat zusammen in diesem Zimmer im ersten Stock. Vierzig Tage zusammen mit Fuat in
dem Haus, von dem sie später sagen wird: Es hat mir Glück gebracht. Alle meine Gebete, die ich in diesem Haus an den Herrn
gerichtet habe, sind erhört worden.
Das Zimmer nebenan gehört Güls Schwager Orhan, seiner Frau und ihren beiden kleinen Söhnen. Unten haben die Schwiegereltern,
Faruk und Berrin, ein Zimmer, und Levent, der älteste der Brüder, bewohnt mit seiner Frau und ihren beiden Töchtern ein weiteres.
Nur das große Wohnzimmer und das Schlafzimmer der Schwiegereltern haben einen Ofen.
Es gibt viel zu tun in so einem großen Haushalt, doch Gül gewöhnt sich schnell daran. Die ersten Tage erledigt sie still,
aber zuverlässig, was ihr aufgetragen wird, sehr bald jedoch übernimmt sie alle möglichen Aufgaben, geht jedem zur Hand, und
ihre anfängliche Scheu verliert sich, weil sie sieht, daß sie sich nützlich machen kann.
Wenn Fuat und seine Brüder abends von der Arbeit kommen, wird gegessen, und bald danach verschwindet Fuat in ihrem Zimmer.
Gül räumt ab, spült und fragt Berrin, die sie bisher immer nur Großmutter genannt hat:
– Mutter, gibt es noch etwas zu tun?
Wenn die Antwort nein ist, fragt sie, ob sie gehen darf. Wenn ihre Schwiegermutter nickt, steigt sie die Treppe hoch |216| ins Zimmer. Aber nicht ohne vorher im Flur ihre Hand
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