Die Tochter des Schmieds
aufzusagen. Mitten im Satz legt sie kurz den Kopf auf die linke Seite,
genau an der Stelle, an der Gül umblättern muß.
– Gut, lobt Gül sie, und Melike lächelt kurz gegen ihren Willen.
Nach einigen Tagen ist es so, als hätten sie nie anders gelebt. Sie brauchen jetzt nicht mehr zu warten, bis ihre Mutter aus
dem Haus ist, wenn sie die Truhe öffnen und die Kleider anziehen wollen. Sie nehmen sich oft den Ball und spielen damit. Meistens
im Haus, doch manchmal nehmen sie ihn mit nach draußen. Aber nie mehr als eine Stunde. Jahrelang durften sie den Ball nie
länger als eine Stunde mit nach draußen nehmen, und vielleicht haben sie nun Angst, der Ball würde |233| platzen oder irgendwie kaputtgehen, wenn er zu lange draußen ist, auf der staubigen, steinigen Straße, in der grellen Sonne.
Alle paar Tage kommt ihre Mutter vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, doch Gül räumt auf, sie kocht, Sibel spült ab, und
sogar Melike packt manchmal mit an, hilft, die Wäsche aufzuhängen. Nahezu jedesmal, wenn Gül das Waschwasser aus dem Kupferbecken
kippt, muß sie daran denken, daß sie schon Wäsche gewaschen hat, bevor sie stark genug war, den Zuber zu leeren.
Die Tage vergehen, es sind Sommerferien, es gibt nicht viel zu tun. Es bereitet Gül Freude, sich alles selbst einteilen zu
können, es gefällt ihr, daß da niemand ist, sie zu gängeln, sie tut alles freiwillig, und sie tut es gern. Es kommt ihr vor,
als würde sie weniger arbeiten als zu der Zeit vor ihrer Hochzeit, weniger als zu der Zeit, als ihre Mutter noch die Aufgaben
verteilte. Und sie weiß, daß sie diese Freiheit wahrscheinlich sehr lange nicht mehr haben wird.
Melike lernt für die Prüfungen, die schon bald anstehen. Um sich abzulenken und zu belohnen, spielt sie Volleyball. Sibel
läuft durch die Gärten, vielleicht klaut sie Kirschen oder spielt mit Lehm, abends zeichnet sie meistens im Schein der Druckluftlampe,
und Gül sieht ihr zu, wie sie vor Konzentration die Lippen aufeinanderpreßt und die Stirn in Falten legt. Einige Male besucht
Gül Esra, aber nur, um mit Candan zu spielen. Sie ist versucht, Esra auf ihre Lüge anzusprechen. Doch sie traut sich nicht.
Vielleicht hat sie ja nur gelogen, um mich nicht zu ängstigen, denkt sie, doch sie kann es ihr nicht verzeihen.
– Nichts, sagt sie immer, es ist nichts, wenn Esra sie fragt, was sie denn hat.
Manchmal schleicht Gül sich auf einen Tee zu Suzan, immer darauf bedacht, daß ihre Schwiegereltern und ihre Mutter sie nicht
sehen. Ab und zu geht sie auch ihre Schwiegereltern besuchen. Dann ist sie tatsächlich eine Art Gast, niemand bittet sie um
etwas. Doch sie weiß, daß sich das ändern wird, sobald sie wieder dort wohnt.
|234| Als Arzu eines Tages zu Hause ist, ruft sie erzürnt die Schwestern zusammen:
– Ihr habt mit dem Ball aus der Truhe gespielt, stellt sie fest.
– Nein, haben wir nicht, sagt Melike sofort. Warum sollten wir mit dem Ball spielen?
Gül ist ihr dankbar dafür, daß sie lügt, und hofft, daß sie damit durchkommen werden.
– Sei still, fährt Arzu Melike an. Siehst du die Flecken an der Wand dort? Woher stammen die bitte? Habt ihr euch von jemand
anderem einen Ball ausgeliehen? Da ist ein Fleck von einem Ball an der Wand.
Sie schreit jetzt.
– Eine undankbare Brut seid ihr. Kaum dreht man euch den Rücken, schon stöbert ihr in meiner Truhe. Wer hat euch das erlaubt?
Aber das war das letzte Mal, das verspreche ich euch. Ihr ungezogenen Blagen, möget ihr Krebs bekommen, alle drei.
Wenn sie so rot im Gesicht ist, sagt sie manchmal das mit dem Krebs, und keine der drei Schwestern weiß, was das ist.
Nachdem sie es erfahren hat, wird Gül denken, daß eine Mutter möglicherweise anders fluchen würde. Ach, hätte ich euch nie
geboren, würde sie sagen, aber sie würde nicht ihren Kindern den Tod an den Hals wünschen.
Am Abend dieses Tages hören Sibel, Melike und Gül, wie ihre Eltern sich streiten. Die lauten Stimmen dringen durch die dicken
Wände, aber sie können nicht verstehen, was da geschrien wird. Gül ist ganz still. Und hofft, daß Melike auch still bleibt.
Nach dem Frühstück bedeutet der Schmied seiner Ältesten, mit ihm in den Garten zu gehen. Seine Frau hat diese Nacht hier verbracht.
– Sie wollte nicht wieder zurück, sagt er. Sie behauptet, ihr könntet euch nicht benehmen. Ich werde ein Schloß an die Truhe
machen. Aber du mußt mir versprechen, daß nichts |235| mehr passieren
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