Die Tochter des Teufels
Wundertätern, die durch die russischen Weiten zogen oder von den Klöstern empfohlen wurden.
Alexandra Feodorowna, die Zarin, flüchtete sich in die Mystik. Wochenlang betete sie in einer eigens für sie erbauten Kapelle im Park von Zarskoje Selo, empfing die ›heiligen Idioten‹ und beugte sich über sie, um aus ihrem Gestammel ein Wort des Wunders herauszuhören.
Und so kamen sie alle nach Petersburg und Zarskoje Selo, dem herrlichen Sommerschloß: der Franzose Dr. Philipp, der sich jahrelang als medizinischer Berater am Hof hielt … der ›heilige Idiot‹ Mitja Koljaba aus dem Kloster Optima Pustyn, den der Psalmsänger Jegorow herumführte, denn nur durch ihn – so sagte er – könne der Wundertäter seine Verklärungen verkünden. General Orloff, ein Freund der Zarenfamilie, entdeckte die ›heilige Törin‹ Darja Ossipowa, die schreiend und spuckend sich auf der Erde wälzte, und die Zarin kniete neben ihr und wartete auf ein erlösendes Wort Gottes. Und Dr. Badmajew trat auf, ein geheimnisvoller Arzt, der im fernen Tibet bei den Mönchen studiert hatte und seine ›Tibetische Medizin‹ anbot … die ›Schwarze Lotosessenz‹, das ›Niwrik-Pulver‹, das ›Tibetinische Lebenselixier‹, den ›Nientschen-Balsam‹ und vor allem sein ›Infusum aus Asokablumen ‹, das den Zarewitsch heilen sollte.
Professor Fedorow und Dr. Derewenko waren machtlos. Zwar überwachten sie den Zarewitsch ärztlich, aber die Zarin mißtraute ihrem Können. Als es Dr. Badmajew gelang, mit seinen ›Infusum aus Asokablumen‹ die Schmerzen des kleinen Jungen zu lindern und sogar eine innere Blutung zu stillen, verfiel die Zarin völlig den ›Wundertätern‹ und öffnete den Palast den Scharlatanen.
Ein riesiger Matrose der kaiserlichen Marine, Derenkow, wurde abkommandiert zum Bewacher des Zarewitsch. Nicht einen Schritt tat der kleine Prinz mehr ohne seinen Matrosen; Derenkow schlief im gleichen Zimmer, aß mit dem Zarewitsch, war wie ein Schatten. Hinzu kam eine fröhliche dralle Kinderfrau, die Wischniakowa, die an dem Zarewitsch hing wie an ihrem eigenen Kind.
So wuchs der Erbe der russischen Krone in einer Welt von Angst und Lüge auf. Wenn er spielte, durfte er sich nicht stoßen und verletzen, er durfte nicht stolpern und fallen und nicht schnell laufen, er mußte in einem riesigen Spielzimmer in einem gepolsterten Stuhl sitzen und mit einer mechanischen Welt spielen … mit einer riesigen Eisenbahnanlage, mit Schiffen, die in einem großen Bassin schwammen, mit Arbeitern, die sich in einem aufgebauten Bergwerk bewegten, mit einer Miniaturstadt, in der Autos fuhren und Pferdekarren. Das alles konnte er von seinem Stuhl aus mit Knöpfen und Schaltern bedienen, laufen und stehen lassen … eine Welt voll herrlichsten Spielzeugs, und der Zarewitsch saß mit traurigen Augen davor, ließ die Schiffchen fahren und die Autos rumpeln und hörte immer wieder den riesigen Derenkow oder die dicke Wischniakowa sagen: »Alexej, stoß dich nicht … Alexej, sei vorsichtig … Lauf nicht so schnell, Sonnenscheinchen …«
Am 7. Oktober 1907, vormittags um 11 Uhr, wurde Professor Dr. Fedorow vom Operationstisch weggeholt nach Zarskoje Selo.
Das Entsetzliche war geschehen.
Beim Spielen im Sandkasten, im Park des Schlosses, war unter den Augen seines Leibwächters und der Kinderfrau Wischniakowa der Zarewitsch gefallen. Ehe sie herbeispringen konnten, hatte er sich gestoßen. Eine schwere innere Blutung war aufgetreten … die rechte Leistengegend wurde blau, wahnsinniger Schmerz durchzuckte den kleinen Jungen. Als der Matrose Derenkow im Laufschritt zurück zum Palast kam, das Kind auf den Armen, war der Zarewitsch schon ohnmächtig.
Vor zwei Tagen war das gewesen. Niemand hatte es erfahren. Die Wundertätigen und ›heiligen Idioten‹ versagten, die tibetische Medizin Dr. Badmajews blieb ohne Wirkung … schmerzgekrümmt, mit angezogenem Bein, lag der Zarewitsch im Bett, und das Fieber stieg von Stunde zu Stunde.
Die Zarin saß zwei Tage und Nächte am Bett ihres Kindes und betete. Nachts lag sie auf dem Fußboden und flehte Gott um ein Wunder an. Erst wenn der Morgen dämmerte, erhob sie sich und wankte hinaus in den Nebenraum, wo der Zar wartete, die Ärzte, der Matrose Derenkow, die Wischniakowa und in Abständen die anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie; die Töchter Olga, Tatjana, Maria und Anastasia und die Großfürstinnen Miliza und Stana Nikolajewna.
Am Morgen dieses 7. Oktober 1907, noch bevor
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