Die Tochter des Teufels
aus, um nicht zu erleben, wie die Verwandtschaft sich über die Dinge stürzte, die Renés und ihr Paradies hätten werden sollen. Nur ihr persönliches Eigentum nahm sie mit, auch die Geschenke Renés. Eine Perlenkette, eine Brillantbrosche und ein Armband aus Rubinen.
»Für die Brosche kaufen wir ein Auto!« sagte Saparin. »Und dann los! Paris kann man nicht beim ersten Anlauf erobern!«
Und so kam sie wieder in ihre alte Wohnung in der Avenue de New York, Ecke Place de l'Alma, und die Concierge begrüßte sie, als sei sie nur auf einer langen Reise gewesen. Nichts hatte sich verändert.
»So ist das Leben, mein Engel«, sagte Nadja am ersten Abend in der alten Wohnung. Helena lag im Bett, ihr Püppchen im Arm, und Nadja saß auf der Bettkante und hatte zum Tagesabschluß ein altes russisches Märchen erzählt. »Es kann Gold und Diamanten vom Himmel regnen – wichtig ist, daß man ein guter Mensch bleibt.«
»Und wir sind gute Menschen, Mamuschka?«
»Wir zwingen uns, es zu sein.«
»Und ist das schwer, Mamuschka?«
»Schwer, mein Engel. Sehr schwer.«
Sie beugte sich über Helena und gab ihr einen Kuß. Und plötzlich wurde es feucht in ihren Augen.
Es war so herrlich, wieder weinen zu können.
Ende Oktober kam der Zirkus Orlando nach Paris und bezog in einer Halle auf dem riesigen Gelände der Gare aux Marchandises , wo auch die Reparaturwerkstätten der Staatsbahnen lagen, sein Winterquartier.
Bunte Plakate warben in ganz Paris für den Besuch der Vorstellungen, die Litfaßsäulen und Holzwände, Bauzäune und Bäume waren vollgeklebt mit Löwenköpfen, Elefanten, Trapezkünstlern, Kamelreitern und mit Seehunden spielenden Clowns. Drei Werbeautos fuhren die Avenues und Boulevards hinauf und hinunter und lockten mit schreiender Lautsprechermusik, die Bilder todesmutiger Artisten anzusehen und Eintrittskarten im Vorverkauf zu erwerben.
Auch Helena blieb bei einem Spaziergang vor einer der riesigen Plakatwände stehen und sah mit großen Augen auf die brüllenden Löwenköpfe und den Mann in weißer Uniform, der die Peitsche hob und die Bestien Männchen machen ließ wie gutmütige Pudelchen.
»Gehen wir da auch hin, Mamuschka?« fragte sie und zerrte an Nadjas Hand. »O bitte, bitte, Mamuschka.«
»Wenn du keine Angst hast, Helenuschka …«
»Angst? Wovor?«
»Vor den vielen wilden Tieren.«
»Ich habe keine Angst!«
Nadja drückte Helena an sich, und als auf der Rue de Rivoli ein lärmendes Auto des Zirkus Orlando an ihnen vorbeifuhr, winkte sie und kaufte zwei Eintrittskarten. Ganz vorn am Manegenrand.
Es ging Nadja in diesen Wochen nicht schlecht, und auch die Zukunft sah nicht trostlos aus. Vier Tage nach ihrem völligen Verzicht auf das Erbe René Stanislas' erhielt sie die Mitteilung, daß auf der Nationalbank für sie ein Konto mit zwanzigtausend Francs eingerichtet worden sei. Der Einzahler wolle ungenannt bleiben.
Nadja lächelte bitter und schloß den Brief weg. Es wird für Helena sein, dachte sie. Von Marcel Stanislas nehme ich kein Geld an. Aber Helena wird mit diesem Geld studieren können. Sie soll nie wissen, wie bitter das Leben sein kann.
Aber das war nicht die einzige Unterstützung, die Nadja von unbekannter Seite erhielt. Jede Woche brachte der Geldbriefträger eine Anweisung über hundertfünfzig Francs, und diesmal stand Nadja vor einem Rätsel, denn als Absender war nur ein Schließfach am Hauptpostamt genannt. Zwei Wochen lang rührte sie das Geld nicht an, dann überwand sie ihre Scheu vor dem unbekannten Geschenk.
Saparin hatte es fertigbekommen, trotz der kritischen Wirtschaftslage die Brillantbrosche Nadjas gut zu verkaufen.
»Hurra!« schrie er und warf Nadja die Geldscheine auf den Tisch. »Hurra! Das bedeutet ein Luxusauto und ein halbes Jahr Leben dazu! Soll ich das zweite Taxi kaufen?«
»Ich überlasse es dir, Boris Michailowitsch«, sagte Nadja. »Ich glaube, ich habe gar keinen eigenen Willen mehr …«
Und Saparin bestellte einen schönen schwarzglänzenden Citroën. Nadja aber begann bei Saparin Fahrunterricht zu nehmen. Sie fuhren dazu hinaus zu einem großen Schuttplatz, wo Nadja gefahrlos ihre Runden drehen konnte, bremste und rückwärts fuhr, Schalten und Zwischengasgeben lernte und sich von Saparin den Motor, das Getriebe und das Differential erklären ließ.
Saparin war ein strenger Lehrer. Nadja mußte Zündkerzen auswechseln und sie reinigen; er täuschte eine Reifenpanne vor, und Nadja wechselte einen Reifen. Einmal baute er einen
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