Die Tochter des Teufels
»Bitte, kommen Sie … Wissen Sie, daß ich in der Manege drei Fehler gemacht habe, nur weil ich Sie immer ansah? Gott sei Dank hat es keiner gemerkt, auch die Löwen nicht. Löwen sind nämlich schrecklich eifersüchtig!«
Nadja antwortete nicht. Sie trat zu Helena und nahm sie an die Hand. »Komm, Helenuschka«, sagte sie so laut, daß es Castor deutlich hörte. »Wir müssen weiter! Die Welt besteht nicht nur aus Löwen!« Und als Helena noch nicht gehen wollte, zog sie die Kleine vom Gitter weg und entfernte sich schnell zu den Pferdeställen hin.
»Elf Uhr!« rief ihr Frank Castor nach. »Im Zentralkäfig …«
Und dieser Zuruf hallte in Nadja wider, als sie schon längst wieder zu Hause waren und Helena ihren Püppchen und Bärchen von den großen lebendigen wilden Brüdern erzählte.
Pünktlich um elf Uhr vormittags stand Nadja Gurjewa vor dem Rundkäfig und sah Frank Castor beim Aufbau der Löwenpyramide zu. Außer einem Stalldiener war niemand in der Manege; Castor arbeitete allein, er war seinen Löwen wie ein Bruder, ja, er war der stärkste Löwe von ihnen, und darin liegt das Geheimnis des Gehorsams. In der Natur wird immer nur der Stärkere anerkannt.
Ein paarmal winkte Castor ihr zu und lächelte. Er trug wieder seine weiße Uniform und den Tropenhelm. Nadja setzte sich auf den Manegenrand außerhalb des Käfigs und beobachtete die Löwen.
»Pause!« sagte Castor und warf seine Holzstange weg.
Mit ausgestreckten Armen kam er auf Nadja zu, nachdem er die Käfigtür hinter sich verriegelt hatte. Und ohne zu zögern zog er Nadja, als sie ihm die Hand gab, mit einem Ruck an sich und küßte sie. Mit beiden Fäusten stemmte sie sich von Castor ab. Ihre dunklen Augen flammten.
»Sind Sie verrückt?« zischte sie. »Lassen Sie mich los, oder ich schreie!«
»Schreien macht meine Löwen nervös! Bloß nicht schreien! Wollen Sie, daß ich nachher zerrissen werde?« Er hielt Nadja mit beiden Armen umfaßt, und sie machte sich steif und sprach durch zusammengepreßte Lippen.
»Lassen Sie mich los!«
»Wie heißen Sie?«
»Das geht Sie gar nichts an!«
»Sie heißen Nadja Grigorijewna Gurjewa …«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe mich gestern bei russischen Emigranten erkundigt. Haben Sie geglaubt, ich denke nicht mehr an Sie? Bis heute morgen um fünf Uhr habe ich mit einem russischen General, einer Fürstin und zwei Grafen getrunken, um Ihren Namen zu erfahren! Sie sind wirklich eine Tochter Rasputins. Und Ihre Raubtieraugen sind echt. Wissen Sie, daß die Löwen vor Ihnen Angst haben werden, wenn Sie sie ansehen?«
»Lassen Sie mich los!« Nadja befreite sich mit einem Ruck aus Castors Armen und trat zwei Schritte zurück. »Zum Teufel, sollen die Löwen Sie doch zerreißen!«
»Jetzt … jetzt …«, sagte Castor atemlos. »Dieser Blick! Er würde die Löwen lähmen … Er verbrennt jeden Willen!«
»Adieu!« sagte Nadja laut.
Aber sie kam nicht dazu wegzugehen. Castor griff wieder nach ihrem Arm, und ehe sie sich wehren konnte, hatte er sie zur Käfigtür gedrängt, der Riegel sprang herum, die Tür klappte auf, noch ein Stoß … und Nadja stand in der Manege, innerhalb des Zentralkäfigs, umgeben von den stummen, sie anstarrenden Löwen. Hinter ihr fiel die Tür wieder zu. Castor holte Peitsche und Holzstange von einem Podest.
»Sie sind wirklich wahnsinnig …«, stammelte sie. »Sie sind ein Verrückter!«
»Hier können Sie mir nicht mehr weglaufen.« Frank Castor ließ seine Peitsche knallen. In die Löwen kam Bewegung. Sie sprangen einzeln von ihren Podesten und schlichen zur Manegenmitte. Nur der Löwe mit der dunklen Mähne blieb sitzen und starrte Nadja aus kleinen grünen Augen an. Das Maul war halb geöffnet und gab blutrote Lefzen frei.
»Was soll das?« fragte Nadja. Ihre Starrheit löste sich. Sie sah sich um. Die Halle war leer. Sie waren allein mit den Löwen.
»Ich weiß viel über Sie, Nadja«, sagte Castor. »Sie waren die geheimnisvolle La Russe im Moulin Rouge, Ihr Verlobter fiel in einem Duell, und nun leben Sie zurückgezogen mit Ihrem reizenden Töchterchen und wollen ein Autotaxi fahren lernen.«
»Machen Sie den Käfig auf, Sie Verrückter!« sagte Nadja laut.
»Pst! Nicht schreien! Die Löwen …« Castor blieb bei seinen Tieren stehen. Hinter Nadja hockte der schwarzmähnige Ali. Sein leises, dumpfes Knurren machte sie unbeweglich. »Nadja«, sagte Castor beschwörend, »Sie sind zu schade für solch ein Leben! Sie sind kein Bürger … Sie sind ein
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