Die Tochter des Teufels
Revolutionär! In Ihnen fließt nicht das Blut der Bourgeoisie – in Ihnen tobt die Wildheit Sibiriens. Das wissen Sie ganz genau, und Sie unterdrücken sich selbst!«
»Lassen Sie mich hinaus!«
»Drehen Sie sich um, Nadja. Ihre Augen haben die Flamme, die alle versengt. Los … drehen Sie sich um … Sehen Sie Ali an …«
Langsam wandte sich Nadja um. Drei Meter von ihr hockte der große Löwe auf seinem Holzpodest. Er starrte sie kalt und feindlich an. Und als sie jetzt einen Schritt näher kam, riß er sein Maul auf und brüllte ihr entgegen. Der Kampfruf des Starken.
»Antworten Sie ihm, Nadja!« sagte Castor. Er war dicht hinter ihr, lautlos wie eine Katze war er herangekommen. »Keine Angst«, flüsterte er. »Der Löwe merkt das sofort! Sie sind der Stärkere. Sie! Sprechen Sie ihn an.«
»Ali!« sagte Nadja laut. Sie erkannte ihre Stimme nicht mehr. Rauh war sie, wie abgeschmirgelt.
»Lauter …«
»Ali!«
Der herrliche Löwe brüllte zurück.
»Geh näher …«, sagte Castor hinter Nadja. »Ganz nahe. Und sieh ihn an. Blick ihm in die Augen, so, als solltest du ihn mit deinem Blick töten! Und zeig ihm, daß du stärker bist …«
Noch einen Schritt … dann ein halber … Nadja stand vor dem Löwen, so nahe, daß sein heißer Atem über ihr Gesicht strich. Er roch nach fauligem Fleisch. Castor war an ihre Seite getreten, mit dem Peitschenknauf streichelte er Ali zärtlich über die breite Nase.
»Zeig ihm die Kraft deiner Augen«, sagte er dabei. »Ali, mein Junge … dir hilft alle Auflehnung nicht mehr …«
Und plötzlich war von Nadja alle Angst, aller Widerstand gewichen. Sie sah den Löwen an und dachte dabei an ihren Vater, dessen Blick Krankheiten aus dem Körper gezogen und Irre geheilt hatte.
»Ali …«, sagte Nadja fast zärtlich. »Mein Ali … wir lieben uns doch, nicht wahr?« Und sie streckte die Hand aus, ehe Castor sie ergreifen und zurückreißen konnte, und streichelte dem plötzlich sanften Löwen den Kopf, strich ihm über die Augen, die Nase, die Schnauze und kraulte ihm das Fell unter dem dicken Hals. Und Ali hielt still, ja, er schloß die Augen, hob den Kopf und ließ sich weiter kraulen. Wie ein Stofftier saß er da, unbeweglich und still, nur die breite Nase zuckte leicht vor Wonne. »Ich bin entthront …«, sagte Frank Castor leise. Ergriffenheit schwang in seiner Stimme. »Nadja … Sie sind ein Wunder! Und so etwas will durch Paris Taxis fahren …«
Von dieser Stunde an war Nadja Gurjewa jeden Tag im Zirkus Orlando. Saparin, der auf einer Fortführung der Fahrstunden bestand, log sie vor, sie wolle ihn mit dem, was sie jetzt tue, überraschen. Es sei ein Geheimnis.
Man soll Boris Michailowitsch nicht für gutmütiger halten, als er war. Als Nadja die kleine Helena auch noch in einem Kindergarten anmeldete, wurde er vollends kopflos und lauerte Nadja auf. Er fuhr ihr eines Morgens nach und sah, daß sie in dem Hallenkomplex verschwand, in dem der Zirkus Orlando überwinterte und die Pariser mit seinen Vorstellungen begeisterte. Und Saparin sah auch, wie ein Mann in weißer Tropenuniform Nadja auf dem Platz zwischen Kasse und Manegenhalle begrüßte und ihr einen Kuß gab.
»Der Satan hole die Weiber!« schrie Saparin in seinem Taxi. »Einen Löwenbändiger hat sie! Womit soll ich wohl überrascht werden, he? Mit einem jungen Löwen? Mit einer abgebissenen Hand? Zum Jammern ist das! Oh, zum Weinen!«
Aber was half da alles Klagen? Am Abend, als Saparin zu Nadja kam, war alles klar. Er brachte ihr einen kleinen Stofflöwen mit und stellte ihn stumm auf den gedeckten Tisch zwischen die Suppenteller.
Ohne sichtliche Verlegenheit bemerkte Nadja den kleinen Stofflöwen und füllte den Teller Saparins mit Suppe. »Ja«, sagte sie dann, als sie auch saß und das Weißbrot brach, »so ist das, Boris Michailowitsch.«
»Was ist so?« knurrte er. »Allez hopp! Ist das schon was?«
»Er ist ein todesmutiger Mann.«
»Ein Gaukler! Bei uns zogen sie mit dressierten Bären durch die Lande und bekamen wie Bettler ihre Kopeken.«
»Frank ist ein Künstler. Er ist stark und mutig, und seine Löwen sind herrliche Tiere. Sie gehören ihm. Jedes Tier kostet zehntausend Francs! Er verdient pro Vorstellung zweihundert Francs … das sind im Monat über achttausend Francs, mit den Nachmittagsvorstellungen. Ehrlich verdientes Geld!«
»Und eines Tages reißt ihm so eine Bestie den Kopf ab!«
»Seine Löwen lieben ihn!«
»O Himmel! Vielleicht schlafen sie auch noch in
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