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Die Tochter des Teufels

Die Tochter des Teufels

Titel: Die Tochter des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ersten- und zum letztenmal stand Nadja drei Stunden später General Belinskij gegenüber. Vor dem Eingang des großen Gebäudes der Ochrana standen die Schlittenpferde und dampften. Sie waren von Zarskoje Selo bis nach Petersburg gerannt, als wären sie vor einem Sturmwind geflohen.
    General Belinskij, elegant, höflich, aber kalt wie Marmor, warf einen langen Blick über die junge, hübsche, wertvoll gekleidete Dame in den hohen Reitstiefeln.
    »Ihre Majestät, die Zarin, schickt mich!« sagte Nadja mit dem Stolz, den man aus der Umgebung des Zaren gewöhnt war. »Ich bin Nadja Grigorijewna Woronzowa. Die Zarin läßt fragen, wann der Leichnam Grigori Jefimowitschs in das Alexandra-Palais übergeführt wird. Die Zarin will eine Ehreneskorte Husaren schicken.«
    General Belinskij zwinkerte mit den Augen. Er war etwas verwirrt. Es ist doch alles geklärt, dachte er. Der Hof weiß genau die Zeit. Und alles soll heimlich geschehen, ohne Aufsehen. Wieso jetzt Husaren?
    »Rasputin wird morgen früh in einem neutralen Auto nach Zarskoje Selo gebracht«, antwortete er. »Es war der Befehl des Zaren, daß niemand den Transport sieht.«
    »Ich komme von der Zarin!« Nadja warf den Kopf in den Nacken. Belinskij lächelte schwach. Natürlich, natürlich, dachte er. Der Zar will Diskretion, die Zarin will Hoftrauer. Das alte Lied in Rußland: Uneinigkeit bis in die Familie des Kaisers hinein. Wie soll Rußland da eine Nation werden?
    »Ich unterstehe dem Zar, Madame!« General Belinskij verneigte sich höflich, aber mit deutlicher Reserviertheit. »Ich führe seine Befehle aus. Wenn Ihre Majestät, die Zarin, genaueste Auskunft wünscht, bitte ich Sie, den Zaren selbst zu fragen …«
    Wortlos, grußlos verließ Nadja das Zimmer des Ochrana-Chefs. Belinskij pfiff leise vor sich hin, schob einen Notizblock heran und notierte sich den Namen Nadja Grigorijewna Woronzowa. Er wußte in diesem Augenblick noch nicht, daß in den Aufzeichnungen seines Vorgängers, General Spiridowitsch, hinter diesem Namen stand: Tochter Rasputins.
    In der Kapelle, neben dem Sarg, hielten die Zarin und Anna Wyrobowa die ganze Nacht hindurch abwechselnd Totenwache. Sie beteten oder starrten stumm in das Antlitz Rasputins.
    Niemand war zugegen; nicht einmal die Frau Rasputins und seine ehelichen Kinder durften dem Sarg folgen. An der Totenmesse nahmen nur der Zar und die Zarin teil, die vier Töchter, Anna Wyrobowa, Innenminister Protopopow, zwei Adjutanten und die Popen. Auch der Zarewitsch wurde ferngehalten, aus Angst, er könne in seiner Trauer stolpern oder auf dem glatten Boden ausrutschen. Wer half ihm dann vor dem Verbluten? Es gab keine Wunder Rasputins mehr …
    Der Zar selbst trug zusammen mit Minister Protopopow und einigen Offizieren den Sarg auf seinen Schultern zu der Grabstätte im Park von Zarskoje Selo. Als die Schollen der gefrorenen Erde auf den Sargdeckel polterten, war es, als töne noch einmal, zum letztenmal, die tiefe Stimme des Staretz aus dem Grab. Der Zar faltete die Hände.
    Eine Ahnung durchzog ihn: Es bricht eine neue Zeit herein. Wie wird Rußland sie überstehen …
    Die Ermordung Rasputins schien wie ein Gift zu wirken. Es lähmte die Regierung und den Zarenhof, aber es machte aus den bisher trägen Gehirnen der russischen Bürger, Soldaten und Bauern flammende Herde revolutionären Denkens. Hinzu kamen die Niederlagen der russischen Armeen an allen Fronten, der Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung und die Ignoranz des Adels hinsichtlich der Kriegsprobleme.
    In der Duma, dem russischen Reichstag, hielt der Abgeordnete Kerenskij flammende Reden. Er rief zum Sozialismus auf, gegen Korruption, gegen den Adel, der Rußlands Gräber schaufelte. Er rief das Volk auf, zu handeln, ehe es zu spät sei.
    »Rettet euch durch eure eigene Kraft, wenn es andere nicht mehr können! Das russische Volk ist müde, für eine Regierung zu sterben, die nichts für es tut! Wir brauchen eine Revolution, die Rußland völlig neu gestaltet! Nur eine Revolution, nur sie allein, kann uns noch retten!«
    Die Preise in den Läden kletterten immer höher. Bäckereien, Metzgerläden, Milchgeschäfte schlossen in Massen … was sollten sie noch verkaufen? Es gab kaum noch Mehl, keine Rinder und Schweine, keine Butter und keinen Käse. Die Banken gaben keine Kredite mehr – woher das Geld nehmen? – die Bauern, ob in der Ukraine oder in Sibirien, am Kaukasus oder an den Westhängen des Urals, weigerten sich, ihre Produkte abzuliefern. Sie horteten

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