Die Tochter des Teufels
Wyrobowa-Wohnung. Die Kammerfrau, die öffnete, wurde beiseite geschoben … zehn Männer in dicken, schmutzigen Stiefeln, Gewehre über dem Rücken, auf dem Kopf Lederkappen und um die Ärmel ihrer zerschlissenen alten Mäntel rote Binden, drangen in das Haus ein.
»Herhören!« brüllte einer der Männer. Er hatte einen riesigen Glatzkopf und trug einen Kneifer.
»Was wollen Sie hier?« fragte die Wyrobowa den Glatzköpfigen. »Sie beschmutzen meine Teppiche.«
Die zehn Männer lachten brüllend. Sie stampften den Dreck von ihren Stiefeln ab und freuten sich, als Lehm und Straßenkot über die Teppiche spritzten.
»Es ist aus mit eurem Hochmut!« schrie der Glatzkopf. »Ihr habt das Volk genug ausgesaugt! Ruhe! Du sollst herhören, du Hure! Im Namen des Revolutionskomitees verfüge ich über dich und alle, die hier wohnen, Hausarrest! Ihr habt euch nicht aus dem Haus zu rühren! Habt ihr verstanden?«
»Nein!« erwiderte die Wyrobowa stolz. »Befehle nehme ich nur vom Zaren entgegen.«
»Der Zar wird bald an einer Laterne baumeln!« brüllte der Glatzkopf. »Ab jetzt befiehlt das Volk!«
»Das müssen Sie beweisen!« sagte die Wyrobowa hart.
»Und wie wir das beweisen! Freunde! Zeigt es ihnen!«
Die Männer lachten wieder. Sie nahmen ein paar Stühle und zwei wertvolle Brokatsessel, warfen sie gegen die Wand und zertrümmerten sie. Dann rissen sie die Gardine ab, und ein Revolutionär stellte sich gegen die Wand mit der Seidentapete, knöpfte seine Hose auf und pinkelte dagegen.
»Genügt das?« fragte der Glatzkopf zufrieden. »Unten stehen Wachen! Wer das Haus verläßt, wird erschossen!«
Er drehte sich um und verließ den Salon. Die anderen folgten.
»Das ist das Ende.« Die Wyrobowa fiel auf einen der heilgebliebenen Sessel und sah auf die Trümmer, als die Revolutionäre das Haus endgültig verlassen hatten. Ihr starrer Mut fiel ab; jetzt zitterte sie. »Es ist das Ende, das Vater Grigori gesehen hat. Was hat er damals gesagt? ›Solange ich lebe, wird Gott bei euch sein und werdet ihr auch leben.‹ Nun ist er tot … und auch wir werden vernichtet werden …«
Sie weinte, brach zusammen, zitterte und schrie und wurde von Nadja und der Kammerfrau ins Bett getragen. Ein Nervenfieber machte sie für die nächsten Tage ohnmächtig. Sie dämmerte dahin … und die Revolution wuchs und wuchs, griff über nach Moskau, raste wie ein Feuersturm durch das ganze riesige Land.
Das Volk regiert! Schluß mit dem Zaren! Frieden! Freiheit! Brot! Baut ein neues Rußland aus den Trümmern! Jahrhunderte haben wir verschlafen!
Keiner arbeitete mehr. Der Generalstreik war ausgerufen. Im Hafen meuterten die Matrosen und schwärmten in die Stadt, um die Revolutionäre zu unterstützen. Mit aufgepflanztem Bajonett beherrschten sie bald die Straßen. Polizisten und Ochrana-Spitzel, die verhaßtesten Personen in Rußland, wurden gejagt und erschlagen. Immer mehr Regimenter liefen über … die baltischen Truppen, das Pawlowskij-Regiment, die Reservebataillone der Garde. Eine provisorische neue Regierung wurde gebildet, als Präsident ernannte man den Fürsten Lwow, aber jeder wußte, daß Kerenskij das Herz, die Seele, der Atem der Revolution war.
In der Nacht vom 2. zum 3. März 1917, zwölf Minuten vor Mitternacht, unterschrieb Zar Nikolaus II. seine Abdankungsurkunde im Salonabteil seines Hauptquartierzuges. Er hatte, als er die Wahrheit erkannte, versucht, von Mogilew nach Petersburg zu fahren, um durch seine Person vielleicht zu retten, was noch zu retten war. Zum erstenmal hatte er Mut und Tatkraft gezeigt – aber zu spät.
Als er am 8. März in Zarskoje Selo eintraf, war das Schloß von Truppen des Schützenregiments abgeriegelt. Wie ein Fremder mußte sich Nikolaus II. vor dem Kommandeur, Oberst Kobylinskij, ausweisen. Im Inneren des Schlosses herrschte als neuer Kommandant Oberst Korowitschenko. Als der Zar an die Tür klopfte, fragte man ihn: »Wer ist da?« Und der Zar antwortete: »Öffnen Sie dem Obersten Romanow!«
Dann trat er ein, ging sofort in die Zimmer der Zarin und umarmte sie. »Jetzt sind wir endlich für uns, Alix …« sagte er leise. Er hatte noch die Kraft, die Zarin zu trösten. »Verrat, Feigheit, Schurkerei – das ist alles, was ich um mich sehe! Ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
Zarskoje Selo wurde zum Gefängnis. Ein goldenes Gefängnis mit Hofmarschällen und Heiducken, mit Negern in Samtröcken und Kammerdienern, mit Hofdamen und Leibärzten. Nur die Wyrobowa fehlte.
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