Die Tochter des Teufels
taten die Polizisten? Sie nahmen die Kochkessel und pißten hinein! Aber jetzt regiert das Volk, verdammt noch mal!« Dann kassierte er die Kopeken, die Nadja eingenommen hatte, schimpfte wieder und ging.
Nadja war damit zufrieden. Sie lebte, und sie wartete ab. Das Leben würde sich bald wieder normalisieren, die Wehen der Revolution hörten einmal auf … dann lebte man wieder vernünftig und hatte Zeit, sich umzusehen.
»Kastanien … heiße Kastanien … fünfzig Kopeken …«
Nadja füllte gerade eine Tüte ab, als ein Schatten über sie fiel. Sie legte die Tüte hin, griff nach einer vollen und hielt sie hoch. Im gleichen Augenblick sagte der Käufer:
»Bitte, eine Tüte …«
In Nadjas Herz schlug es ein wie ein Blitz. Sie ließ die Tüte fallen, ihre Arme schnellten hoch, ein einziger Aufschrei war ihr hitzeglühendes Gesicht.
»Nikolai!«
Der Offizier in langem Mantel und Pelzmütze, der sich gerade heruntergebeugt hatte, um die Kastanien entgegenzunehmen, prallte zurück. Das Geld fiel aus seiner Hand.
»Mein Gott …«, stammelte er. »Mein Gott … Nadja. Nadjuscha … du lebst …«
Er riß Nadja von ihrem Hocker, hob sie über den Ofen weg, drückte sie an sich, küßte das heiße Gesicht, und es kümmerte ihn gar nicht, daß die Leute auf der Brücke stehenblieben, daß sie den Kopf schüttelten, daß sie Bemerkungen riefen … er trug Nadja, mit den Armen gegen seine Brust gepreßt, vom Ofen weg, drehte sich mit ihr im Kreis und schrie in den kalten Tag hinein. »Meine Nadjuscha! Meine Nadjuscha! Ich habe sie wieder! Sie lebt! Sie lebt!«
»Du lebst, Nikolai. Du lebst!« Sie weinte und lachte in einem Atem, sie tastete sein Gesicht ab und küßte ihn auf die Stirn, auf die Augen, die Nase, den Mund … und immer wieder streichelte sie ihn, umfaßte seinen Kopf und schrie: »Du lebst! Nikolai! Nikolai!«
Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatten, bis sie am Geländer der Brücke standen und sich an den Händen hielten.
»Ich war verwundet«, sagte Gurjew. Seine Kehle war noch zugeschnürt vor Glück. »Bei Tannenberg. Kameraden retteten mich vor der Gefangenschaft … ich kam auf die Krim, lag dort im Lazarett, fast ein Jahr lang … Und ich habe dir geschrieben, jede Woche, ein halbes Jahr lang … Und ich habe gewartet, Tag für Tag, auf eine Antwort. Sie kam nie … und da sagte ich mir: Sie hat mich vergessen! Vielleicht hat sie einen Grafen geheiratet. Was bin ich denn schon? Ein Hauptmann! Was bildet sich ein Gurjew denn ein? Nadja kann andere Männer haben … Nach einem halben Jahr schrieb ich nicht mehr … ich kam nach Moskau, und als die Revolution ausbrach, versetzte man mich nach Petersburg … und ich fragte überall nach dir … Sie ist tot, hieß es, wenn man überhaupt etwas wußte. Sie ist wie ihr Vater ermordet worden …«
»Ich habe nie einen Brief bekommen, Nikolai.« Nadja lehnte den Kopf an seine breite Schulter. Er lebt!
Nikolai Gurjew sah über die Newa, auf die spielenden Kinder, auf das Winterpalais, Zeuge einer vergangenen kaiserlichen Pracht.
»Wo wohnst du?« fragte er.
»In einem Loch.«
»Ich miete dir ein Zimmer.«
»Da mußt du den Revolutionsrat fragen.« Sie richtete sich auf, und erst jetzt sah sie, daß Gurjew eine rote Armbinde trug, schamhaft fast heruntergezogen bis zu den Aufschlägen. Ihre Augen wurden weit und fragend. Stumm zeigte sie auf die rote Binde. Gurjew nickte.
»Ja, Nadjuscha«, sagte er heiser. »Ich bin Offizier der Revolution geworden. Es ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir. Doch bevor du weiterfragst, sollst du mir die Wahrheit sagen: Glaubst du, daß ich ein Revolutionär bin? Glaubst du, daß ich den Zaren verraten könnte?«
»Die Binde, Nikolai …«, sagte Nadja stockend. »Die rote Binde!«
»Es gibt Bären, die tanzen nach einer Pfeife auf dem Markt. Bleiben sie nicht deshalb doch Bären?«
»Diese Binde ist eine Lüge?«
»Sie ist mein Schutz, dein Schutz, der Schutz des Zaren!« Gurjew faßte Nadja um die Schulter, küßte sie und zog sie mit sich weg von der Brücke. »Was gibt es zu erzählen! Was liegt jetzt noch vor uns. Ich habe dich wieder … mein Gott, das ist mir eine ganze Revolution wert!«
Am Mittag, als Rutschkin wieder die saure Suppe zur Brücke brachte, fand er den Schemel leer und kalt, und der Ofen brannte nicht mehr. »O Scheiße!« schrie er, warf den Suppentopf über die Brücke aufs Eis, trat den kalten Ofen um und raufte sich die Haare. »Sie ist weg, Genossen!« brüllte
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