Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
blickte
sich nicht um, hastete stattdessen weiter, ohne darauf zu achten wohin. Als sie
endlich innehielt, um Atem zu schöpfen, merkte sie, dass ihr Tränen über die Wangen
liefen. Es tat weh, es tat endlos weh, und am liebsten hätte sie sich mitten auf
der Gasse im Schmutz zusammengerollt und wäre nie mehr aufgestanden.
In den nächsten Tagen arbeitete
Jolanthe akribisch die Einträge in den Büchern des Kontors durch und versuchte,
nicht an Pascal, an ihren Vater oder die Schwester zu denken. Während der Arbeit
gelang ihr das. Nur manchmal, wenn sie eine Pause einlegte, kam der Schmerz zurück.
Sie spürte ihn körperlich, und so als wolle ihr Geist sie zusätzlich quälen, schickte
er ihr immer wieder Bilder aus besseren Tagen. Verlorene Vertrautheit lag in ihnen.
Die bohrende Frage, warum alles so hatte kommen müssen und was überhaupt wirklich
geschehen war, war ihr Begleiter. Immer und immer wieder suchte sie nach Erklärungen,
ging im Geist eine Möglichkeit nach der anderen durch, um sie schließlich alle zu
verwerfen und ein paar Augenblicke später von Neuem zu beginnen. Erst, wenn sie
sich dazu zwang, sich erneut den Zahlen zu widmen, spürte sie vorübergehende Erleichterung.
Die ersten
zwei Abende hatten Weinkrämpfe sie wach gehalten. Dann hatte sie sich zur Ordnung
gerufen. Sie hatte versucht, sich vorzustellen, was Martha zu alldem sagen würde,
und recht genau gewusst, dass sie zumindest nicht dulden würde, wenn Jolanthe sich
hängen ließ. Sie vermisste die Freundin und hatte doch noch nicht den Mut gefunden,
mit ihr in Kontakt zu treten.
Stattdessen
saß sie über den Büchern und arbeitete alles auf, was sie verpasst hatte und zum
besseren Überblick auch die Wochen davor. Zunächst wechselten die Handschriften
ab, die eine war von ihrem Vater und die andere musste Vico gehören. Doch die letzten
Einträge hatte nur noch ihr Vater gemacht. Die Lage sah in der Tat verheerend aus.
Am dritten Tag konnte Jolanthe sich ein Bild machen von dem, was geschehen war.
Die Renovierungen
am Haus und Sieglindes Hochzeit hatten viel Geld gekostet. Im Gegenzug kam von Vicos
Anteil am Unternehmen seines Vaters zu wenig herein. Er hatte die Summe vermerkt,
aber sie entsprach nur einem Bruchteil der Ausgaben. Das aber bedeutete, dass dem
Vater weniger Kapital für Investitionen übrig blieb, denn einen Kredit aufnehmen
wollte er ja nicht. Offenbar waren in ihrer Abwesenheit dann zwei Weberbetriebe
aus Biberach als Zulieferer weggefallen. Sie vermutete, dass der Vater die Vorschüsse
nicht mehr zahlen konnte und die Betriebe somit zu finanzkräftigeren Kaufleuten
gewechselt hatten. Deshalb aber konnte das Kontor auch weniger Tuch verkaufen. Sein
Gewinn verringerte sich – es war ein Teufelskreis. Jolanthe sah es deutlich vor
sich und auch die Ausweglosigkeit, von der die Einträge sprachen.
Winald hatte
bereits die Ausgaben für die Köchin halbiert, was bedeutete, dass sie nur noch jeden
zweiten Tag kam. Das konnte Sieglinde nicht gefallen. Und doch fand Jolanthe einen
Eintrag für Ausgaben beim Schneider, das also hatte der Vater ihr nicht ausschlagen
können. Er hätte das Geld besser für Barchent ausgegeben, statt es an seine Tochter
zu verschwenden.
Sie sah
durch das offene Fenster auf die Veilchen in den Blumenkästen und wunderte sich
nicht zum ersten Mal, dass sie immer noch dort wuchsen. Sieglinde hasste Veilchen
und hatte diese trotzdem gegossen. Es gab Dinge, die Jolanthe nicht verstand, doch
ehe die Gedanken sie erneut in Beschlag nehmen konnten, zwang sie sich bewusst,
an die Misere des Kontors zu denken.
Auch wenn
der Vater es verboten hatte, sie musste etwas unternehmen. Sie kannte die Lösung,
sie hatte den Schlüssel in der Hand und konnte mit ihrem Weg die Zahlen wieder in
Ordnung bringen, das hatte sie bewiesen, auch wenn es niemand sehen wollte. Also
musste sie handeln, ganz gleich, welche Verbote auf ihr lasteten. Sie konnte nicht
tatenlos zusehen, wie alles niederging, was der Vater in jahrzehntelanger Arbeit
geschaffen hatte.
Am vierten
Tag verließ sie unter einem Vorwand das Haus. Es tat gut, die frische Luft einzuatmen.
Sie fühlte sich besser. Auch das Bild von Pascal, wie sie gemeinsam am Fluss saßen
und Steinchen in das Wasser warfen, verursachte kaum noch Schmerz mehr, kaum Wut,
kaum Sehnsucht. Sie nahm das als gutes Zeichen und spürte stattdessen Tatendrang.
Dieser Mann würde sie nicht mehr aus der Ruhe bringen, nein, sie nicht. Der Vater
und die Schwester auch
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