Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
dass sie die Trauungszeremonie nicht miterleben musste. Sie
wollte so wenig wie möglich an den Feierlichkeiten teilhaben. Dem Vater musste sie
helfen, in den Saal im Haus der Kaufleute zu kommen. Dort würde er, in einen Lehnstuhl
gepackt, die Gäste und das Brautpaar erwarten. Sobald er Zeichen der Erschöpfung
zeigte, war es ihre Aufgabe, ihn unbemerkt wieder nach Hause ins Bett zu schaffen.
So hatten sie es vereinbart.
Nun lief
sie neben einem schmalen Pferdekarren, auf dem Winald in Decken gehüllt saß und
sein bleiches Gesicht in die frische Luft hielt. Seine Finger umschlossen den Rand
des Karrens, um sich festzuhalten. Die Räder quietschten, die Achsen knarrten, und
der Gaul, der das Gefährt zog, schnaubte in regelmäßigen Abständen. Sein Besitzer
führte ihn, schritt neben ihm her und trottete in der gleichen Art wie das Tier.
Jolanthe
zog den Stoff ihres Umhangs ein wenig fester um sich. Ihr tat es weh, den Vater
so hilflos zu sehen. Sein Bein wurde nicht besser, sie hatte es gesehen, als sie
Sieglinde beim Verbandwechseln helfen musste, weil die Magd am Brunnen Wasser holte.
Um die Wunde herum hatte sich das Fleisch an kleinen Stellen braun verfärbt und
stank erbärmlich, trotz der Salbe, die Sieglinde auftrug. Es sah aus, als würde
das Gewebe ganz langsam bei lebendigem Leib vertrocknen.
Sie erreichten
das Handelshaus. Der Wagen blieb an einer Seite stehen, wo er warten würde. Jolanthe
half Winald auf die Straße. Er lehnte sich schwer auf sie und den Mann mit dem Pferdewagen,
als sie ihn die Treppen zum Festsaal hochzogen.
»Vielleicht
wär es doch besser, den Medikus noch einmal nach dem Bein sehen zu lassen«, keuchte
sie.
»Unsinn!
Sieglinde versorgt mich hervorragend. Sie weiß, was ich brauche.« Winalds Stimme
klang fest trotz der Anstrengung.
Jolanthe
biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Sie half ihm bis zu seinem Sessel am Kopf
der Tafel, breitete Decken über seinen Beinen aus und strich ihm mit einem Tuch
den Schweiß von der Stirn. Dann sah sie sich um.
Der Saal
war so groß wie das gesamte Gebäude, und seine Decke stützten in regelmäßigen Abständen
Holzpfähle, auf denen oben die Querbalken ruhten. Zur Straße hin ließen etliche
Butzenscheibenfenster das Licht hinein. An einem Ende hatten Musiker ihre Instrumente
ausgepackt. Jolanthe hörte die Klänge einer Laute und die Töne einer Flöte, die
aus dem Takt dazwischen spielte. Die Wände des Saales waren mit Girlanden aus Stoff
geschmückt. Lange Tafeln luden zum Verweilen ein und ein freier Platz in der Mitte
zum Tanz. Jolanthe wusste, wie teuer dieses Fest den Vater zu stehen kam. Sie hatte
die Summe gesehen, die er entnommen und in das Kontorbuch eingetragen hatte. Gesprochen
hatte er mit ihr darüber nicht, und sie war erleichtert, dass er Sieglinde keine
freie Hand gegeben hatte. Ihre Wünsche für diesen Tag hätten die entnommene Summe
um einiges überschritten. Das Kontor aber konnte nicht alles verkraften. Zumindest
in diesem Punkt war auf den Vater immer noch Verlass – und das beruhigte Jolanthe.
Langsam
füllte sich der Raum mit Gästen. Gelächter brandete auf, als ein Gaukler seine Späße
trieb. Sieglinde und Vico waren schmuck anzusehen, das musste Jolanthe zugeben.
Während des Mahles saßen sie neben dem Vater, die Wangen der Schwester röteten sich
je mehr sie dem Wein zusprach. Offenbar gelang es Vico, sie mehr als einmal zum
Lachen zu bringen. Jolanthe, auf der anderen Seite Winalds, aß kaum etwas. Stattdessen
beobachtete sie die Mägde, die immer neue Platten mit Speisen auftrugen wie Pasteten,
Braten, Fladenbrote, Gänsekeulen, Gemüsekuchen. Sie füllten die Krüge mit Wein und
Bier.
Genauso
wie sie bin ich hier nur als Handlanger, dachte sie und betrachtete verstohlen den
Vater von der Seite. Er lachte, hob seinen Becher, und bis auf sein bleiches Gesicht
schien er ganz der Alte zu sein. Wie gut er sich im Griff hatte.
Nun begann
das Brautpaar den ersten Tanz. Die Gäste klatschten und reihten sich ein. Sämtliche
Kaufmannsfamilien Ulms hatten sich eingefunden, ihre Töchter herausgeputzt, denn
so manche sah es als Möglichkeit, die Mädchen zu präsentieren, um passende Ehemänner
zu finden. Sie trugen kunstvoll um den Kopf gewundene Hauben und Kleider, mit Pelzbesatz
am Saum oder Stickbordüren, sowie Halsketten aus Perlen oder Schmuck aus Gold. Die
Stimmung war ausgelassen. Einer der Kaufleute verwickelte Winald in ein Gespräch,
und Jolanthes Blick wanderte zum Eingang. Sie
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