Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Bein und eine den Oberschenkel
des verletzten Beines. Jolanthe verfolgte die Vorbereitungen mit wachsendem Unbehagen.
Schließlich band Martha das Bein ab. Der Wundarzt holte eine Säge sowie etliche
Scheren, Nadeln und Klammern aus seiner Tasche. Jolanthe spürte, wie ihr Hals eng
wurde. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit, und sie hoffte inständig, dem
allen Stand halten zu können. Dann dachte sie an ihren Vater und riss sich zusammen.
Sie hatte
es die ganze Zeit vermieden, auf die Wunde zu schauen, und war nun erleichtert,
dass Sieglinde, die das Bein festhielt, ihr die Sicht verdeckte. Die Geräusche der
Werkzeuge gingen unter in Winalds erstickten Schmerzenslauten und zerrten an Jolanthes
Neven. Durchhalten, dachte sie. Es wird alles gut werden. Sein Oberkörper bäumte
sich hoch. Jolanthe stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn. Ihre Hand wanderte zu
seiner, doch er hatte sich so sehr ans Laken geklammert, dass sie seinen Griff nicht
lösen konnte. Martha achtete darauf, dass er fest auf das Holz biss und schob es
immer wieder nach. Jolanthe spürte Feuchtigkeit auf den Wangen. Sie merkte, dass
ihr die Tränen aus den Augenwinkeln liefen und nicht zu stoppen waren. Das Tuch,
dessen Rand sie sehen konnte, färbte sich rot. Das Geräusch der Säge fraß sich in
ihr Bewusstsein. Sie keuchte unter der Anstrengung, den Vater ruhig zu halten. Ihr
Bauch schmerzte vor verkrampfter Anspannung. Ganz unvermittelt ließ der Widerstand
nach. Sie schaute erschrocken auf Martha, doch die lächelte nur.
»Er ist
ohnmächtig. Das ist gut für ihn.«
Jolanthe
schloss die Augen, als Sieglinde sich von ihrem Platz wegbewegte. Der Wundarzt schnaubte,
und das Knacken der Knochen ließ Jolanthe die Augen wieder öffnen. Sie sah rotes,
rohes Fleisch und Blut und spürte die Übelkeit, die sich nicht mehr zurückdrängen
ließ. Hastig sprang sie auf.
»Jolanthe!«
Sie musste
hier raus, an die frische Luft, an den Brunnen, frisches Wasser. Sie gelangte nur
bis in den Flur, da kam ihr Mageninhalt hoch, spritzte in einem Bogen auf den Dielenboden.
Ihr Körper verkrampfte sich wieder und wieder und sie erbrach so lange, bis nur
noch Flüssigkeit kam.
»Ich hoffe,
dass du das selbst wegputzt«, hörte sie Sieglindes Stimme hinter sich, und der Unterton
erschreckte sie. Er war voller Verachtung.
Sie konnte
nicht antworten. Ihr Mund brannte, ihre Kehle fühlte sich rau an, und ihre Gedanken
waren nicht klar genug. Jolanthe hörte das Schlagen einer Tür, dann war sie wieder
allein auf dem Flur. Sie schleppte sich die Treppe hinunter. Ich muss den Dreck
wegwischen, dachte sie und konnte keinen anderen Gedanken mehr zulassen, nur diesen.
Sie schaffte es tatsächlich, den Dielenboden mit vier Eimerfüllungen so zu säubern,
dass es nicht mehr roch. Erschöpft ließ sie sich von Katrein, die das Wasser vom
Brunnen geholt hatte und das Schmutzwasser unten entsorgte, den letzten Eimer abnehmen.
Sie hatte sich gerade erhoben, da hörte sie die Stimme ihrer Schwester. Sie klang
wütend.
Die Tür
wurde aufgerissen. Martha kam heraus. Nun konnte Jolanthe die Worte Sieglindes verstehen.
»Keinen
Pfennig mehr bekommt er als ihm zusteht! Ich habe ihn nicht geholt, und Vater hat
ihn nicht darum gebeten, dass er ihn verstümmelt!«
Der Wundarzt
folgte Martha, seine Tasche wieder mit einer Hand gepackt. Was er wohl denken mochte?
»Wie geht
es ihm?«, fragte sie.
»Er ist
wieder wach, aber noch benommen«, antwortete Martha. »Wird schon, keine Sorge. Ich
habe selten so einen zähen Mistkerl gesehen wie Winald Kun.« Sie drehte sich zu
dem Mann um. »Ihr werdet Euer Geld bekommen, und wenn ich die fehlenden Münzen selbst
drauflege.«
Sieglinde
schloss die Tür zur Kammer von innen. Was sie mit Winald redete, war nun nicht mehr
zu verstehen.
»Folgt mir
ins Kontor«, sagte Jolanthe und erkundigte sich bei dem Mann nach dem Betrag, den
sie ihm schuldete, dem ganzen, wie sie betonte.
Martha verstellte
ihre Stimme und ahmte Sieglinde nach: »Der Kerl bekommt keinen Heller mehr, als
Vater ihm geben will, und du Kräuterweib scher dich fort. Ich hoffe, es freut dich,
dass du deinen Willen bekommen hast!« Martha schüttelte den Kopf. »Mädchen, deine
Verwandtschaft wird mir so langsam unsympathisch.«
Jolanthe
öffnete das Kästchen mit den Münzen für den alltäglichen Gebrauch und zählte die
verlangte Summe auf den Tisch, schob sie auf ihre Handfläche und übergab sie dem
Wundarzt.
»Ihr sollt
wissen, dass ich Euch sehr dankbar
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