Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
jeder Umdrehung. Mit dem Wasser wusch sie
Gesicht und Arme, trank ein paar Schlucke, es war eiskalt und schien direkt aus
dem Berg zu kommen. Schließlich machte sie sich daran, ihr Kleid notdürftig zu säubern
und die Flecken auszuwaschen. Niemand musste wissen, was ihr geschehen war. Sie
wollte keine Fragen beantworten, weil sie selbst keine Antworten wusste.
Wer nur
hatte sie gestern festgehalten, ihr die Hand auf den Mund gepresst, sodass sie kaum
atmen konnte? War es einer der Mönche gewesen, der die Anwesenheit von Frauen nicht
ertrug, ohne sich an ihnen zu vergreifen? Konnte das möglich sein? Dass ein Mann
Gottes sich derart versündigte, hörte man immer wieder. Der Mann hatte hinter ihr
gestanden, sie hatte Schweiß und ungewaschene Haut gerochen, kein Wort hatte er
mit ihr gesprochen. Sie blickte sich um. Der Klosterhof war leer. Langsam trockneten
die Pfützen. Beim Abort konnte man die Spuren ihres nächtlichen Kampfes sehen. Jolanthe
ging in die Hocke und suchte den Boden ab, doch er gab nichts preis, was ihr weiterhalf.
»Was gefunden?«
Jolanthe
schrak zusammen, als sie die Stimme neben sich hörte. Erst im zweiten Moment erkannte
sie Pascal.
»Nichts«,
antwortete sie und starrte weiter nach unten, um ihn nicht ansehen zu müssen.
»Heute werden
wir gut vorankommen auf unserem Weg«, sagte er in unverbindlichem Ton, sodass sie
doch hochblickte und sich aufrichtete. Aber er wich ihr ebenso aus wie sie zuvor
ihm. Na schön, dachte sie enttäuscht. Zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig.
Das, was gestern geschehen ist, sollten wir vergessen.
»Ja, sicher.«
Sie wandte sich um, zögerte, wollte ihn nicht einfach so stehen lassen. »Kommst
du mit?«
Zum Frühstück
wurde ihnen im Gästehaus warmes, frisch gebackenes Brot serviert und der harte Bergkäse,
den sie in letzter Zeit so oft zu essen bekamen. Die Stimmung unter den Reisenden
hob sich, als sie das gute Wetter bemerkten. Nachdem sie sich gestärkt hatten und
die Tiere wieder beladen waren, brachen sie auf. Erneut ging es die schmalen Wege
entlang, über hölzerne Brücken, immer weiter bergan. Wenn der Abgrund auf einer
Seite zu tief wurde, zwang Jolanthe sich, nach vorn zu schauen. Manchmal hielt sie
das nicht durch und blickte hinab. Dann spürte sie Schwindel und einen Anflug von
Druck im Kopf. Meist passierten sie diese Streckenabschnitte zu Fuß und führten
die Pferde hinter sich. Jolanthe kam das entgegen, sie wollte nicht auch noch auf
so einem unberechenbaren Tier hocken, wenn es an einer Seite steil bergab ging.
Lieber schob sie sich zwischen Pferd und Felswand und starrte nach vorn, zählte
jeden Schritt und dachte an die schönen Dinge, die sie auf der Reise bislang erlebt
hatte. Davon gab es schließlich genug. Manchmal aber irrten ihre Gedanken auch zu
dem nächtlichen Überfall, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Erklärung
mit dem Mönch zu einfach war. Es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, mit
Martha darüber zu sprechen, aber sie nahm sich vor, die Freundin am Abend beiseite
zu ziehen. Sie musste wissen, was geschehen war.
Die Sonne
hatte sich schon lange hinter den Berggipfeln versteckt. Jolanthe zählte die Schritte,
weil sie sich müde fühlte. Sie hoffte, dass sie bald ihren nächsten Rastplatz erreichen
würden. Die Männer bevorzugten Hospize, die sich auf die Reisenden eingerichtet
hatten. In freier Natur zu nächtigen, barg zu viele Gefahren, allen voran ein Überfall
durch Räuber. Diese Strategie hatte allerdings zur Folge, dass sie manchmal gewaltige
Tagesstrecken zurücklegen mussten.
Der Weg
schlängelte sich bereits eine ganze Weile am Abgrund entlang. Jolanthe hielt ihr
Pferd am Zügel, was brav hinter ihr her trottete. Sie sah Martha vor sich um eine
Wegbiegung laufen, dann verschwand auch ihr Reittier. Jolanthe fluchte über die
glitschigen Steine, auf denen sie rutschte, wenn sie nicht aufpasste. Ein Gebirgsbach
hatte am gegenüberliegenden Hang eine tiefe Schlucht gegraben, die Wassermassen
fielen fast senkrecht herunter. Sie sah Gämsen oben an einem Grat entlangwandern.
Kleine Geröllbröckchen lösten sich und polterten in die Tiefe.
Martha kam
wieder in Jolanthes Blickfeld und mit ihr die davor laufenden Maulesel mit den Knechten,
die sie führten. Über das Schnauben der Tiere hinweg hörte Jolanthe ein Grollen,
ganz leise nur. Es hörte sich nicht an wie ein Gewitter, und auch sonst lag nichts
Bedrohliches in dem Geräusch, doch Martha vor ihr blieb stehen, so als
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