Die Todesbotin
waren keine Augenweide. Verzweifelt wandte ich den
Blick der Eisernen Jungfrau zu — und konnte sie kaum erkennen.
»Das Licht ?« fragte ich zögernd.
»Wird immer schwächer«, nickte
Mapleton. »Dachte, meine Augen spielen mir einen Streich, aber Sie haben recht .«
Einige Sekunden später ging die
eine Petroleumlampe aus. Mapleton hob sie hoch und schüttelte sie ärgerlich.
»Unnützes Ding !« schimpfte er dabei. »Das verstehe ich nicht. Habe sie
erst gestern bis zum Rand gefüllt .«
Er stellte die Petroleumlampe
auf den Tisch zurück, während die andere schon ganz niedrig brannte, und ich
fühlte, daß meine Handflächen plötzlich feucht wurden.
»Du hast sie bestimmt gefüllt,
Onkel ?« Allards Stimme hatte
einen geduldig-amüsierten Unterton.
»Natürlich !« bellte Mapleton. »Du brauchst mir gar nicht frech zu kommen, Geoffrey.
Jedenfalls können wir auch im Dunkeln bis ein Uhr warten, wenn es sein muß .«
Er mußte eine Art Instantprophet
sein. Der Docht der einen noch brennenden Öllampe knisterte ein paarmal, dann
gab er es auf. Die plötzliche Dunkelheit war überwältigend. Verbittert
erinnerte ich mich daran, daß Mapleton Boris die Taschenlampe gegeben hatte; so
saßen wir nun also ohne Licht im schwärzesten Loch von Mapleton Castle. Dann flackerte ein Feuerzeug auf, aber nur lange genug, um meine
Sehnerven total zu verwirren.
»Noch 35 Minuten«, stellte
Allard fest. »Ist jemand dafür, daß wir Choräle singen, um uns die Zeit zu vertreiben ?«
»Ein trauriger Humor«, sagte
Mapleton. »Sehr traurig!«
»Still«, fuhr ich ihn an.
»Was?«
»Sie sollen still sein !« fauchte ich. »Hören Sie’s denn nicht ?« Mapleton hielt den Mund. Ich hoffte von Herzen, daß er nichts hören konnte, was
mir für meinen Teil nur die Notwendigkeit eines Gehörtests bewiesen hätte. Aber
dann hörte ich das Geräusch wieder, und Mapleton ging es, nach seinem
plötzlichen, erschreckten Luftholen zu urteilen, genau wie mir: das erstickte
Schluchzen einer Frau.
»O mein Gott !« murmelte Allard.
Mein Haar fühlte sich so an,
als stünde es mir steif vom Kopf ab. Das Schluchzen wurde lauter, und dann
leuchtete im Gang, der zu den Kerkern führte, ein schwaches, irisierendes
Glühen auf. Und dann erschien die Weiße Frau.
Einen beklemmenden Moment lang
glaubte ich, es sei Désiree Mapleton: das gleiche kurze, blonde Haar, die
gleiche Figur. Sie schluchzte noch stärker, als sie auf der Schwelle
stehenblieb, dann hob sie den Kopf und blickte uns an. Sie trug ein langes
weißes Kleid und hatte eine Hand vor den Mund gepreßt. Das Gesicht war nur ein
verschwommener, grünlich weißer Fleck. Während sie da auf der Schwelle
verharrte, schien die Zeit stillzustehen; und dann war die Erscheinung
plötzlich wieder verschwunden. Das Schluchzen wurde schwächer und schwächer und
verstummte allmählich ganz. Wieder hüllte uns völlige Dunkelheit ein, und ich
fühlte, daß mir kalter Schweiß über das Gesicht rann.
»All die vielen Jahre«, sagte
Allard gedämpft, »all die vielen Jahre komme ich jetzt schon an diesen beiden
Nächten des Jahres hier herunter und habe es doch niemals geglaubt. Wußten Sie
das? Ich habe niemals an das Gespenst geglaubt. Hielt es für Aberglaube .
Jede alte Burg in England brüstet sich mit einer idiotischen Spuklegende und
mit ihrem speziellen Schloßgespenst . Ich war immer
überzeugt, daß es völliger Blödsinn war .«
»Und jetzt mußt du deinen
Irrtum einsehen«, sagte Mapleton mit müder Stimme. »Es ist ein seltsames
Gefühl, Geoffrey. Zu wissen, daß man sterben muß .«
»Augenblick !« sagte Allard scharf. »Es besteht doch nur eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance,
erinnerst du dich? Es könnte jeden von euch beiden treffen .«
»Aber ich bin ein alter Mann«,
stellte Mapleton trocken fest. »Und Désiree ist jung. Nein, Lady Christine ist heute abend für mich erschienen .«
»Das kannst du nicht wissen«,
beharrte Allard. Ȇberhaupt, warum verschwinden wir nicht aus diesem
scheußlichen Loch und kehren ins Haus zurück ?«
Offensichtlich kannte Mapleton
sich auch ohne Licht hier unten aus. Einige Sekunden später öffnete er die hölzerne
Tür, und von draußen fiel genug Licht herein, um mir die Umrisse der Treppe zu
zeigen. Dankbar stolperte ich an die frische Luft, dicht gefolgt von Allard.
Das Wohnzimmer war leer, als wir es erreichten, und Mapleton trat als erstes an
die Bar, um sich einen großen Whisky einzugießen. Ich griff nach dem
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