Die Todesbotschaft
auf den kleinen Unterschied, dass er sein Handy ans Ohr hielt und leise mit jemandem sprach.
Auf halbem Weg durchs Wohnzimmer hielt ich Adrian am Arm zurück und legte den Zeigefinger an die Lippen. Einen Moment lang wollte ich meinen Vater beobachten, als sehe ich ihn zum ersten Mal, nur um festzustellen, dass es unmöglich war. Der Mann, der dort mit übergeschlagenen Beinen in einem weißen Bademantel saß und mit seiner freien Hand gestikulierte, war mir zutiefst vertraut und auf erschreckende Weise auch wieder nicht. Als hätte ich vierunddreißig Jahre lang eine Münze vor Augen gehabt und doch immer nur deren eine Seite zu sehen bekommen.
Er musste meinen Blick gespürt haben, denn er wandte den Kopf in unsere Richtung und verabschiedete sich gleich darauf von seinem Gesprächspartner. Erst zögernd, dann immer entschlossener ging ich mit meinem Schwager im Schlepptau auf ihn zu.
»Finja … Adrian …« Mit einer knappen Geste wies er uns an, links und rechts von ihm Platz zu nehmen.
Aber ich zog Adrian ostentativ neben mich, nahm den Laptop, den er unter dem Arm trug, stellte ihn vor uns auf den Tisch und schaltete ihn ein. »Johannes ist tot«, sagte ich anstelle einer Begrüßung. »Er wurde erschossen.«
Mein Vater sah zwischen uns hin und her, wobei seinem Blick nichts zu entnehmen war. Lediglich die Ringe unter seinen Augen ließen etwas von dem Druck ahnen, unter dem er stand. »Er hat mir eine SMS geschickt. Es war ein Suizid.«
»Woher willst du das wissen?«
»Er hat mir eine SMS geschickt«, wiederholte er geduldig seine Worte, als habe er es mit einem Kind zu tun.
»Zeig sie mir!«
Ganz kurz hob er eine seiner Augenbrauen, drückte dann jedoch ein paar Tasten seines Blackberrys und reichte mir das Gerät.
Ich las den Satz mehrmals, bis ich ihn für Adrian laut wiederholte: »Ich mache Schluss, Hannes.«
»Er könnte genauso gut gezwungen worden sein, das zu schreiben«, sagte Adrian.
»In dem Fall hätte er mit Johannes unterschrieben.«
»Wann hat er sie geschickt?«, forschte er weiter.
»Vor eineinhalb Stunden.«
»Und da hast du dich nicht sofort ins Auto gesetzt und bist zu ihm gefahren?« Adrian sah ihn entgeistert an.
»Solch eine SMS ist kein Hilferuf. Ich wäre in jedem Fall zu spät gekommen.«
Sein kalter Pragmatismus war erschreckend. »Was geschieht jetzt?«, fragte ich.
»Ich habe zwei unserer Leute hinausgeschickt. Sie werden sich um alles kümmern. Macht euch keine Sorgen.«
»Worüber sollten wir uns denn Sorgen machen, Paps?«, platzte ich heraus. »Etwa darüber, dass es in den vergangenen vier Wochen ein Massensterben im Dunstkreis von
BGS&R
gegeben hat? Immerhin reden wir mittlerweile von sechs Toten. Vielleicht sollten wir uns aber auch damit beruhigen, dass unsere zweifellos kriminellen Väter in letzter Konsequenz nicht ganz so skrupellos sind wie ihr Gegenspieler.« Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wütend wischte ich sie fort und sah über das Stofftaschentuch hinweg, das er mir über den Tisch reichte. »Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was …?«
In diesem Moment schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. »Schluss damit! Ich habe mir diese haltlosen Beschuldigungen jetzt lange genug angehört. Weißt du überhaupt noch, mit wem du redest?«
»Mit meinem Vater. Das macht die ganze Sache für mich besonders schlimm. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, worum es hier geht. Um so ziemlich die widerwärtigste Art, Menschen auszuspionieren.« Ich wählte das Laufwerk der DVD , die ich zuvor in den Schlitten des Laptops gelegt hatte, und suchte im Schnelldurchlauf die Stelle, auf die es mir ankam. Als ich sie gefunden hatte, drehte ich das Gerät so, damit mein Vater auf den Bildschirm sehen konnte. Die Lautstärke war auf Maximum gestellt.
Mit leiser, stockender Stimme erzählte die ungefähr zwanzigjährige junge Frau, deren kurzärmeliges T-Shirt die zahllosen Narben ihrer Selbstverletzungen auf den Unterarmen zum Vorschein brachte, von den ebenso zahllosen Vergewaltigungen durch ihren Vater. Sie musste immer wieder eine Pause machen, bevor sie fortfahren konnte.
Ich stoppte die Wiedergabe und sah meinen Vater an. »Weißt du, was ich neben allem anderen so menschenverachtend finde? Dass eure Aufnahmen nicht etwa dazu dienen, einem solchen Schwein das Handwerk zu legen, sondern nur dazu, euch zu bereichern. Hast du auch nur annähernd eine Vorstellung davon, welche Überwindung es diese junge Frau gekostet haben
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