Die Todesbotschaft
vor zwei Monaten möglich gewesen war. Dafür war zu viel geschehen. Die tiefen Wunden würden irgendwann hoffentlich vernarben. Aber der Schmerz würde bleiben. Wie ein Phantomschmerz, der einen Verlust tief im Bewusstsein verankerte.
Bevor ich Niklas am nächsten Morgen verabschiedete, nahm er mir das Versprechen ab, mein Bild bei seinem Freund Richard zu vollenden. Also nahm ich meine Arbeit in dessen Esszimmer wieder auf. Im Gegensatz zu Niklas überließ er mich dabei völlig mir selbst. Und ich war ihm dankbar dafür, denn ich spürte, wie gut meine Arbeit mir tat und wie ruhig sie mich werden ließ.
Trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals, als ich am Abend des übernächsten Tages die Lobby des Adlon betrat. Auch wenn ich mir immer wieder sagte, dass mir unter den vielen Menschen hier keine Gefahr drohte, schien mein Unterbewusstsein die gegenteilige Botschaft zu senden.
Nachdem ich herausgefunden hatte, wo das Unternehmergespräch stattfand, wartete ich in der Nähe der Tür, durch die die Teilnehmer irgendwann den Raum verlassen würden. Mehr als einmal war ich kurz davor, meinen Plan zu verwerfen und das Hotel zu verlassen. Was schließlich siegte, war der fast zwanghafte Wunsch, diesem Mann wenigstens ein einziges Mal ins Gesicht zu sehen. Nach zwei an meinen Nerven zerrenden Stunden öffnete sich endlich die Tür, und die Teilnehmer kamen heraus.
Ich erkannte Thomas Niemeyer sofort, er sah nicht anders aus als auf den Fotos: perfekt geschnittenes eisgraues Haar, eine hohe Stirn, die durch die Geheimratsecken noch betont wurde, sehr wache Augen und hervorstehende Wangenknochen. Er trug einen anthrazitgrauen Anzug, darunter ein weißes Hemd und Krawatte.
In unauffälligem Abstand folgte ich ihm und zwei anderen in die Lounge, wo ich mir in ihrer Nähe einen Platz suchte. Nur wenige Meter von mir entfernt saß der Mann, der meine Schwester hatte umbringen lassen. Und ich konnte nichts anderes tun als zusehen, wie er sein Glas Rotwein hob und mit seinen Begleitern auf den gelungenen Abend anstieß. Als wäre nichts geschehen. Als wäre es ganz selbstverständlich, dass er sich in Freiheit bewegte. Und als habe er nicht einmal einen Anflug von Angst, dass sich dieser Zustand noch einmal in sein Gegenteil verkehren könnte.
Mir war bewusst, dass ich all das in ihn hineininterpretierte. Trotzdem war ich mir sicher, dass die Allmachtsgefühle, die er mit den Jahren entwickelt haben musste, für Angst keinen Raum ließen. Je länger ich ihn betrachtete, desto größer war das Erschrecken darüber, dass absolut nichts an diesem Mann das Grauen ahnen ließ, das er verbreitet hatte. Er strahlte Selbstbewusstsein aus und machte den Eindruck eines Managers, der sich seines Einflusses bewusst ist. Mehr nicht.
Als ich begriff, dass ich ihn noch stundenlang beobachten konnte, ohne auch nur einen Hauch dessen an ihm zu entdecken, was er getan hatte, stand ich auf und ging. Erst als ich eine Dreiviertelstunde später meine Wohnungstür aufschloss, hatte ich das Gefühl, wieder freier atmen zu können.
Die Sonne schien auf mein Bett, als ich im Halbschlaf mitbekam, dass jemand meinen Anrufbeantworter besprach. Ich sah auf meine Uhr: Es war kurz vor zehn. Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre ich liegen geblieben und hätte mich auf die andere Seite gedreht, um weiterzuschlafen. Aber die vergangenen sechs Wochen hatten mein Unterbewusstsein darauf trainiert, beim Klingeln des Telefons Adrenalin auszuschütten.
Ich lief ins Wohnzimmer und hörte das Band ab. Adrians Stimme klang aufgeregt. Ich solle die neuesten Nachrichten im Internet lesen und ihn danach sofort zurückrufen. In der Küche schaltete ich kurz hintereinander Kaffeemaschine und Laptop ein. Ich wusste nicht, wonach ich suchen sollte, deshalb scrollte ich durch die Meldungen, bis ich mir sicher war, gefunden zu haben, was er meinte.
»Über Jahrzehnte hinweg haben die Partner einer angesehenen, bundesweit agierenden Wirtschaftsdetektei ein erschreckendes Bespitzelungsnetzwerk aufgebaut und dabei vor keiner Tür haltgemacht«, war dort zu lesen. »Das gesamte Ausmaß zu ermitteln, wird einige Zeit in Anspruch nehmen.« Das war jedoch nicht alles. Die Nachricht, die folgte, lautete: »Thomas H. Niemeyer, Aufsichtsratsvorsitzender der Unternehmensgruppe Carstens ist heute in den frühen Morgenstunden unter dem dringenden Verdacht, mehrere junge Frauen auf grausame Weise getötet zu haben, in Berlin festgenommen worden.«
Im ersten Moment spürte
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