Die Todesbotschaft
ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass tatsächlich jemand die DVD s bis zum Ende spulte, um sich deren gesamten Inhalt anzusehen.
Es musste einen Weg geben, Thomas Niemeyer für die Auftragsmorde an meiner Schwester und den anderen dranzukriegen. Und er musste für die Verbrechen an den jungen Frauen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Vorstellung, er würde mit alldem durchkommen, war unerträglich. Trotzdem sah ich noch immer keine Möglichkeit, ihn einer gerechten Strafe zuzuführen, ohne gleichzeitig meinen Vater ans Messer zu liefern. Ich zermarterte mir den Kopf nach einer Lösung, kam aber keinen Schritt voran.
Als ich Adrian am Nachmittag besuchte, erzählte ich ihm nichts von meinem Besuch in Neuperlach. Wir redeten ausschließlich über Amelie und sparten alles andere aus. Bevor ich ging, bat ich ihn, mir etwas von ihren Sachen aussuchen zu dürfen. Und zwar den kleinen Kompass, um den ich sie schon als Kind beneidet hatte. Der sei in ihrer Nachttischschublade, meinte er, ich könne ihn mir dort herausnehmen. Als ich ins Schlafzimmer ging, wäre ich beim Anblick der winzigen Söckchen, die noch neben Amelies Kopfende lagen, fast zurückgeprallt. Während ich daraufstarrte, spürte ich einen Schmerz, der sich nicht lokalisieren ließ. Er hatte meinen gesamten Körper erfasst. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, bückte mich steif und öffnete die Schublade. Der Kompass lag gleich obenauf. Ich wusste noch genau, was mein Vater damals zu ihr gesagt hatte, als er ihn ihr geschenkt hatte: »Damit du immer weißt, wo du bist und auf welchem Weg du dein Ziel erreichst.«
Die Tränen, die ich auf dem Ringbergfriedhof in Kreuth an Johannes’ Grab vergoss, galten nicht diesem vertrauten und doch so fremden Menschen aus Kindertagen, sondern denen, die ihm in den letzten Wochen vorangegangen waren. Ich weinte um Amelie und ihr Baby, um Cornelia, Hubert und Kerstin, die ihrem Vater in diese Grube vorausgeschickt worden war. Während der Sarg in die Tiefe gelassen wurde, hatte ich ihre Gesichter vor Augen und wünschte mir, die Zeiger der Uhr zurückdrehen zu können. Aber auch das hätte nichts geändert, denn keinem von uns wäre es möglich gewesen, auch nur einen dieser Tode zu verhindern. Und dem, der es hätte tun können, war eine Tote wichtiger gewesen. Ich betrachtete diesen Mann, dem ich nichts als Abscheu entgegenbrachte und dem ich die Pest an den Hals wünschte. Ja, sicher, auch er hatte leiden müssen. Aber kein einziger Moment seines Leidens rechtfertigte, was er daraus hatte entstehen lassen.
Über das Grab hinweg wanderte mein Blick von Tobias zu meinem Vater. Würde ich mich jemals an den Gedanken gewöhnen können, einen Verbrecher zum Vater zu haben? Und würde ich irgendwann den Menschen, der er lange Zeit für mich gewesen war, wiederentdecken können?
Eine Hand legte sich von hinten auf meine Schulter. Erschreckt drehte ich mich um und blickte Elly ins Gesicht. Sie zog mich hinter sich her zu einer Bank. Während wir zusahen, wie sich die Trauergemeinde allmählich auflöste, strich sie über meine Hand.
»Vorgestern habe ich deine Mutter im Jägerwinkel besucht. Sie tut sich schwer, Amelies Tod anzunehmen. Willst du sie nicht mal besuchen, bevor du wieder abfährst? Sie würde sich bestimmt freuen.«
»Wem willst du das weismachen, Elly?«
»Was immer sie dir angetan hat, Finja, sie hat einen hohen Preis dafür bezahlt. Genauso wie dein Vater. Die beiden haben ihr Kind verloren. Es gibt nichts Schlimmeres.«
»Glaubst du tatsächlich, da oben sitzt einer mit einer Rechenmaschine?«
Sie schüttelte den Kopf. »Versuch, ihr zu verzeihen. Dann kannst du all das auch irgendwann zurücklassen und musst es nicht dein Leben lang mit dir herumschleppen.«
Einen Moment lang ließ ich den Kopf auf Ellys Schulter ruhen, bevor ich mich erhob. »Das mit dem Verzeihen ist so eine Sache«, sagte ich leise. »Sollte dem nicht wenigstens die Bitte vorausgehen, dass einem verziehen wird?«
»Mag sein. Denk trotzdem darüber nach, ja?«
Ich nickte und umarmte Elly zum Abschied, lud sie zum x-ten Mal zusammen mit ihrem Mann nach Berlin ein und malte ihr mit Tränen in den Augen aus, wie viel Furore ihre Dirndl dort machen würden.
Auf dem Weg zu meinem Auto holte ich Adrian ein. Er wirkte in sich gekehrt und brachte kaum ein Wort heraus. Während ich neben ihm herging, nahm ich seine Hand in meine und drückte sie. Wann immer er ein Ohr brauche, sagte ich, solle er anrufen, denn auf
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