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Die Todesbotschaft

Die Todesbotschaft

Titel: Die Todesbotschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kornbichler
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Frage erst gestellt hast, als es zu spät war?«
    *
    Während Doktor Radolf sich die Hände am Waschbecken wusch, sah Gesa aus dem Fenster. Sie beobachtete eine schwarze Krähe, die völlig regungslos auf dem Ast einer Kastanie saß. Bis sie sich von dem Ast abstieß, die Flügel ausbreitete und zu Boden segelte.
    Doktor Radolf war ihrem sehnsüchtigen Blick gefolgt. »Irgendwann werden Sie uns verlassen und auch wieder Ihre Flügel ausbreiten, Gesa.«
    »Irgendwann ist ein schreckliches Wort, es hat kein Ende«, sagte sie leise.
    »Es hat Hoffnung.« Er klang, als würde er ihr etwas Kostbares zum Geschenk machen. »Bei unserer letzten Begegnung haben Sie mir von einem Traum erzählt. Darin ging es um Tabus …«
    »Es war kein Traum«, unterbrach sie ihn. »Ich war wirklich dort. Ich habe Ihnen doch mein Kleid beschrieben und …«
    In einer beschwichtigenden Geste bewegte er die Hände auf und ab. »Es gibt Momente, da können wir Traum und Wirklichkeit nicht genau unterscheiden. Manchmal verschwimmt auch beides ineinander. Und …«
    »Aber ich kann es unterscheiden, glauben Sie mir, ich kann mich nur nicht mehr erinnern, was danach geschah.«
    Sein Blick ruhte auf ihr, aber er sprach nicht. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Gesa. Ob nun Traum oder Wirklichkeit lassen wir einmal beiseite. Ich würde mich gerne mit Ihnen über Tabus unterhalten.«
    Vor Anspannung presste sie die Oberarme eng gegen den Körper. Die Stirn in Falten gelegt schob sie den Kopf ein wenig vor.
    »Wie würden Sie ein Tabu definieren?«, fragte er.
    Sie dachte nach. »Als etwas, das man nicht tut, das verboten ist.«
    »Sie haben gesagt, einer der Männer in Ihrem …« Er stockte und schien sich selbst zu korrigieren. »Sie sagten, einer der Männer in dem Bootshaus habe gesagt, es gebe Tabus, die man nicht brechen dürfe. Was würde geschehen, wenn man ein Tabu bricht, Gesa?«
    Sie hob die Schultern und ließ sie langsam sinken. »Man würde bestraft?«
    »Glauben Sie, Gesa, dass es ein Tabu ist, sein Kind zu töten?«
    »Keine Mutter tötet ihr Kind. Mütter beschützen ihre Kinder.« Während sie atemlos sprach, schüttelte sie den Kopf, als ginge es darum, ein Unheil abzuwenden. Tränen füllten ihre Augenwinkel und tropften auf ihre Hände. »Mütter beschützen doch ihre Kinder.«
    »Ja, da gebe ich Ihnen recht. Mütter beschützen ihre Kinder. Manchmal glauben sie aber auch, ihre Kinder vor dem Leben beschützen zu müssen. Vor dem, was ihnen das Leben antun könnte. Manche Mütter wählen dann für sich selbst und ihr Kind den Tod.« Er ließ seine Worte einen Moment lang im Raum stehen, bevor er fortfuhr: »Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Sie selbst so handeln würden?«
    Gesas Körper fühlte sich bleischwer an. Sie meinte, nie wieder von diesem Stuhl aufstehen zu können. »Niemals … nein! Nicht mein Baby.« Ihr Atem ging stoßweise. »Geht es ihm gut, Doktor Radolf?«
    »Ja«, beeilte er sich zu sagen. »Ihrem Kind geht es gut.« Er bekräftigte seine Antwort mit einem langen Blick. »Warum, glauben Sie, haben Sie sich mit Tabus beschäftigt? Haben Sie mit einer Entscheidung gerungen?«
    »Es war dieser Mann. Nur ihm ging es um ein Tabu.«
    »Und um welches? Können Sie mir das sagen?«
    »Um den Beichtstuhl.«
    Doktor Radolf legte seine Hände aneinander, als wolle er beten. Über die Fingerspitzen hinweg sah er sie an. »Gab es etwas, Gesa, das Sie hätten beichten wollen?«
    Sie starrte vor sich hin. »Das hätte an meiner Situation nichts geändert.«

[home]
    7
    W ährend der Fahrt zur Privatklinik Jägerwinkel in Bad Wiessee sprach meine Mutter kein Wort. Mit gesenktem Kopf saß sie neben mir, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gemeint, sie schliefe. Aber dafür zeigte ihr Körper zu viel Spannung. In ihm schien es zu brodeln, als stehe etwas kurz vor seinem Ausbruch.
    Diese Spannung übertrug sich auf mich und schürte ein Unbehagen, in das sich Angst mischte. Während der gesamten Fahrt war ich darauf gefasst, meine Mutter würde die Frage in Worte fassen, die an diesem Vormittag in ihrem Blick gestanden hatte: »Warum Amelie und nicht du?«
    Ich war in ihr Schlafzimmer gegangen, hatte ihre Hand genommen und darübergestrichen. Immer wieder, bis sie den Kopf gewandt und mich angesehen hatte. Es war der Blick eines zutiefst verstörten Menschen gewesen, der die Welt als ungerecht empfand und der drohte, an dieser Ungerechtigkeit zu

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