Die Todesspirale
Mehlsack auf so einem Gaul zu hängen! Erst nach einem Jahr darf man springen. Auf dem Eis mache ich schon doppelte Sprünge.
Die beiden nächsten Kladden befassten sich ausschließlich mit dem Eiskunstlauf und einigen Schülerlieben, die Noora sehr leidenschaftlich erlebt hatte. Eigentlich durfte ich mich über die Schwärmerei der Elfjährigen für den Nachbarjun-gen Jesse, der mit seinen langen Wimpern aussah wie Don-nie von New Kids on the Block, nicht lustig machen. Schließ
lich war ich selbst mit elf in Mick Jagger verschossen gewesen und hatte meine Zimmerwände mit Postern von ihm tapeziert. Und heute zierte eine Männercollage, die ich zum Polterabend bekommen hatte, mein Büro, und als einer der Leckerbissen prangte darauf der ewig junge Jagger.
Als sie das neunte Tagebuch anfing, war Noora zwölf, und ihre Eintragungen wurden nachdenklicher und kritischer. Sie fragte sich, warum sie zur Schule ging, warum sie mit dem Eiskunstlauf weitermachte, warum sie sich wieder verliebt hatte, diesmal in einen Jungen aus der Klasse über ihr. Rami Luoto war aus Kanada zurückgekehrt und ihr Trainer geworden. Noora hatte das Gefühl, in einem Monat mehr von ihm gelernt zu haben als bei allen bisherigen Trainern zusammen.
Nun tauchten auch andere bekannte Namen im Tagebuch auf:
Ulrika Weissenberg finde ich widerlich. Dauernd schnattert sie und kommandiert uns herum, dabei hat sie selbst bestimmt nie Schlittschuhe angehabt. Mutter hält Ulrika für wahnsinnig elegant und schön, aber ich finde, sie sieht aus wie eine alte Hexe mit zu viel Schminke im Gesicht. Wie die böse Stiefmutter in Schneewittchen.
Nooras Pubertätsprobleme nahmen zu, immer heftiger kriti-sierte sie ihre Eltern. Es war, als läse ich mein eigenes Tagebuch aus Teenagerzeiten, in dem meine Eltern beinahe wie Monster erschienen. Musste das immer so sein? Würde Schnüppchen, das gerade in meinem Bauch Fußball spielte, Antti und mich eines Tages hassen, uns für verkalkte Tyran-nen halten, mit denen man am besten gar nicht erst redete, weil sie sowieso nichts schnallten?
Mutsch und Paps hatten irgendwelche Leute zu Besuch, eine Fir-menparty. Mutsch war schon drei Tage vorher total nervös, hat ge-schrubbt, gebacken und gekocht und dabei versucht abzunehmen, damit ihr Hintern in ihr altes Kleid passt. Paps schert sich nicht um seine Pfunde, der liegt auf dem Sofa, trinkt Bier, frisst Chips und guckt Rallyes. Meistens fällt ihm gar nicht auf, was Mutsch anhat, obwohl er ihr manchmal an den Hintern grabscht oder an den Busen, sogar am Esstisch, als wäre sie ein Stück Schinken. Die beiden widern mich an.
Am Abend war Paps blau wie ein Gartenzwerg, und Mutsch hat ihn angebrüllt, er hätte die ganze Party versaut. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich war den ganzen Abend auf meinem Zimmer und hab mir das Video von der Olympiade in Albertville angesehen. Viktor Petrenko ist einfach toll. Wenn Nancy Kerrigan lächelt, sieht sie aus wie ein Monster. Susanna und Petri waren irre gut, der sechste Platz ist ganz okay, aber sie hätten mehr verdient gehabt. Nächstes Jahr ist schon die Olympiade in Lillehammer. Und in fünf Jahren in Nagano, in Japan. Da will ich dabei sein.
Der Druck auf meinen Augen kam nicht nur von der Müdigkeit. Ich schlug Nooras zehntes Tagebuch zu. Schnüppchen spielte immer noch Fußball, mir zitterte das Schambein bei seinem Kopfballtraining. Hatten Nooras Eltern ihre Tagebü
cher gelesen, oder hatten sie es geschafft, die Finger davon zu lassen? Ich erinnerte mich an die aufreibenden Versuche, meine Aufzeichnungen vor zwei neugierigen kleinen Schwestern zu verbergen. In der Oberstufe hatte ich zum Schutz eine fast unleserliche Handschrift entwickelt. Noora hingegen schrieb deutlich und gleichmäßig. Beim M war der erste Bogen viel höher als der zweite, was angeblich auf ein egozentrisches Wesen hindeutet. Nach und nach wurde die Handschrift enger, bereits nach einigen Bänden sah man den Übergang von der runden Schönschrift des kleinen Mädchens zu den heftigen Strichen der Pubertierenden.
Trotz meiner Müdigkeit brannte ich darauf zu erfahren, wie Noora auf den Vorschlag reagiert hatte, Paarläuferin zu werden. Vielleicht stand die Antwort im elften Band, einem dicken, schwarz eingebundenen Heft. Ich blätterte fieberhaft und entdeckte bald eine im November vor zweieinhalb Jahren geschriebene Seite, auf der die Querstriche beim T steil nach unten zeigten.
Rami hat heute gesagt, ich könnte nicht springen. Oder
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