Die Toechter der Kaelte
öffnete den Mund und Schloß ihn wieder. Es sah aus, als versuchte er, Worte zu formulieren, die ihm jedoch nicht von der Zunge wollten.
»Jetzt hast du nicht mehr sehr viel zu sagen, was? Morgen kommen übrigens zwei Kollegen aus Göteborg, die auch gern mit dir reden wollen. Die finden unsere Entdeckung äußerst interessant.«
Kaj schwieg, also sprach Patrik weiter, fest entschlossen, ihn irgendwie aufzuscheuchen. Er verabscheute den Mann vor sich, er verabscheute das, wofür er stand, und alles, was er getan hatte. Aber er zeigte es nicht. Ruhig und in besonnenem Ton redete er weiter, als sprächen sie vom Wetter und nicht von Übergriffen auf Kinder. Eine Weile überlegte er, ob er direkt darauf zu sprechen kommen sollte, daß man Saras Jacke gefunden hatte, doch dann entschied er sich, noch einen Augenblick zu warten. Statt dessen beugte er sich über den Tisch, sah Kaj in die Augen und sagte: »Denkt ihr irgendwann auch mal an eure Opfer? Widmet ihr ihnen auch nur den kleinsten Gedanken, oder seid ihr viel zu beschäftigt damit, eure Bedürfnisse zu befriedigen?«
Er hatte keine Antwort erwartet und bekam auch keine. Er sprach weiter in Kajs schweigendes Gesicht: »Weißt du, was in einem jungen Burschen vor sich geht, wenn er jemandem wie dir in die Hände fällt? Weißt du, was kaputt geht, was du ihm wegnimmst?«
Lediglich ein kurzes Zucken in Kajs Gesicht bewies, daß er Patrik gehört hatte. Ohne den Blick von ihm zu wenden, nahm Patrik eins der vor ihm liegenden Papiere und schob es ohne Eile über den Tisch. Kaj weigerte sich zunächst, es anzusehen, dann senkte er langsam den Blick und fing an zu lesen. Ungläubig sah er Patrik an, der nur grimmig nickte.
»Ja, das ist genau das, wonach es aussieht. Ein Abschiedsbrief. Sebastian Ryden hat sich heute morgen das Leben genommen. Sein Vater fand ihn an einem Strick in der Garage. Ich war selber dabei, als man ihn runterholte.«
»Sie lügen.« Mit zitternder Hand nahm Kaj den Brief hoch. Aber Patrik sah, daß er verstand.
»Wäre es nicht schön, endlich die Wahrheit zu sagen?« sagte Patrik sanft. »Ich bin mir sicher, daß Ihnen Sebastian etwas bedeutet hat. Tun Sie es für ihn. Sie sehen doch, was er schreibt. Er will, daß es aufhört. Sie können dafür sorgen.«
Der Ton war verräterisch sympathisch. Patrik warf Martin, der mit gezücktem Stift da saß, einen kurzen Blick zu. Im Zimmer surrte zwar das Aufnahmegerät wie eine Hummel, aber Martin hatte die Gewohnheit, immer eigene Notizen zu machen.
Kajs Finger strichen zärtlich über den Brief, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Martin hob den Stift, bereit zu schreiben.
Genau in diesem Augenblick riß Annika die Tür auf.
»Hier draußen ist ein Unfall passiert, beeilt euch!«
Dann rannte sie über den Flur, und nach kurzem Schock liefen Patrik und Martin ihr nach.
Im letzten Moment dachte Patrik daran, die Tür abzuschließen. Sie würden mit Kaj später weitermachen. Er hoffte nur, daß der günstige Augenblick dann nicht vorüber war.
Er konnte eine gewisse Besorgnis nicht leugnen. Zwar waren erst ein paar Tage vergangen, aber er vermißte diesen richtigen Vater-Sohn-Kontakt. Sicher, er sollte sich vielleicht etwas gedulden, doch er fand einfach, daß man ihm nicht die gebührende Wertschätzung erwies. Den Respekt, den ein Vater verdiente. Diese bedingungslose Liebe, von der alle Eltern redeten, vielleicht vermischt mit ein bißchen gesunder Angst. Der Junge schien eher völlig gleichgültig. Er hing den ganzen Tag auf Meilbergs Sofa herum, mampfte gewaltige Mengen Chips und spielte Videospiele. Meilberg konnte nicht verstehen, woher diese Trägheit kam. Die mußte er von der Mutter haben. Er selbst meinte sich zu entsinnen, in jungen Jahren ein richtiges Energiebündel gewesen zu sein. Zwar konnte er sich beim besten Willen nicht an die sportlichen Leistungen erinnern, die er ja vollbracht haben mußte - er hatte nicht einmal ein Bild vor Augen, das ihn beim Sport zeigte - aber das schrieb er dem Zahn der Zeit zu. Die Vorstellung, die er von sich selbst als jungem Burschen hatte, entsprach einem muskulösen Kerl mit Kraft in den Beinen.
Er schaute auf die Uhr. Früher Vormittag. Die Finger trommelten ungeduldig auf der Schreibtischplatte. Vielleicht sollte er lieber nach Hause gehen und ein bißchen Qualitätszeit mit Simon verbringen. Das würde den sicher freuen. Bei näherer Überlegung begriff Mellberg, daß der Sohn wohl nur ein bißchen schüchtern war und
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