Die Toechter der Kaelte
schweißnaß wurden. Als sie die Kreuzung bei Tanums Gestgifveri passierte, hörte sie Sirenen hinter sich und wurde von einem Krankenwagen überholt, der mit großer Geschwindigkeit angefahren kam. Unbewußt erhöhte sie das Tempo noch mehr und flog förmlich bei Hedemyrs vorbei. Als sie Mr. Lis Geschäft erreichte, mußte sie jäh bremsen, und der Sicherheitsgurt zog sich ruckartig um ihren Brustkorb fest. Der Krankenwagen hatte direkt vor dem Polizeirevier gehalten, und nach beiden Seiten hatten sich bereits Autoschlangen gebildet, weil sie an dem, was wie ein Unfall aussah, nicht vorbeikamen. Als sie den Hals lang machte, sah sie ein dunkles Etwas auf der Fahrbahn liegen und wußte Bescheid.
Wie in Zeitlupe löste sie den Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür und ließ sie weit offenstehen. Mit dem Gefühl des bevorstehenden Weltuntergangs ging sie äußerst langsam auf den Unfallort zu.
Als erstes sah sie das Blut. Das Rote, das aus seinem Kopf auf den Asphalt gelaufen war und sich in einem weiten Kreis um das Haar ausbreitete. Als zweites die Augen. Weit offen, tot.
Ein Mann kam auf sie zu. Die Arme erhoben, um sie zu stoppen. Sein Mund bewegte sich, sagte etwas. Sie ignorierte den Mann und ging immer weiter. Schwer ließ sie sich neben Morgan auf die Knie fallen. Sie hob seinen Kopf auf ihren Schoß und umarmte ihn fest, ohne sich um das Blut zu kümmern, das noch immer heraussickerte und jetzt ihre Hosenbeine durchnäßte. Dann hörte sie das Schreien. Sie fragte sich, wer es wohl sei, der so traurig, so angsterfüllt klang. Dann begriff sie, daß sie es selbst war.
Sie waren den ganzen Weg nach Uddevalla etwas schneller als erlaubt gefahren. Albin sei bei Veronika und Frida gut aufgehoben, hatte Lilian versichert, also konnten sie sich vom Polizeirevier geradewegs dorthin begeben. Charlotte hoffte, daß sie nicht zu spät kamen. Ihre Mutter hatte sich angehört, als hänge Stigs Leben an einem seidenen Faden, und sie ertappte sich selbst dabei, die Hände wie zum Gebet zu falten, obwohl sie nicht gläubig war.
Stig war der freundlichste Mensch, der ihr je begegnet war. Sie verstand erst jetzt, wie lieb sie ihn gewonnen hatte in der Zeit, seit sie bei Lilian und ihm wohnten. Zwar hatte sie ihn auch schon davor getroffen, aber weil es da immer nur kurze Besuche waren, hatte sie ihn erst richtig unter einem Dach kennengelernt. Ihre herzlichen Gefühle beruhten natürlich zum großen Teil darauf, daß Sara und er sich so nahegekommen waren. Er hatte der Tochter Dinge entlockt, die Charlotte immer geahnt hatte, aber zu denen sie selbst nie vorgedrungen war. Sara war nie unverschämt zu Stig, bekam nie irgendwelche Wutausbrüche, sie rannte nicht wie eine Irre herum, unfähig, ihre Energie zu steuern. Bei ihm saß sie ruhig und lieb auf der Bettkante, hielt seine Hand und erzählte, wie der Tag in der Schule gewesen war. Charlotte hatte nie aufgehört zu staunen, wie anders sich Sara verhielt, wenn sie mit Stig zusammen war, und sie bereute es zutiefst, daß sie es ihm nie gesagt hatte. Ihr wurde bewußt, daß sie seit Saras Tod kaum mit ihm geredet hatte. Sie war so tief in ihrer eigenen Trauer versunken, daß sie nicht einmal an die seine gedacht hatte. Er war bestimmt verzweifelt gewesen dort im Obergeschoß, wo er krank und unter Schmerzen lag, in Gesellschaft nur seiner eigenen Gedanken. Sie hätte zumindest mal hochgehen und mit ihm reden sollen.
Sobald das Auto auf dem Parkplatz hielt, stürzte sie hinaus. Sie rannte zum Eingang und wartete nicht auf Niclas. Er kannte sich im Krankenhaus besser aus als sie und würde sie bald einholen.
»Charlotte!« Lilian kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen, als sie das Wartezimmer betrat. Die Mutter weinte heftig, und aller Blicke wandten sich ihnen zu. Weinende Menschen hatten dieselbe Wirkung wie Autounfälle. Keiner konnte das Hinschauen unterlassen.
Unbeholfen tätschelte Charlotte ihrer Mutter den Rücken. Lilian hatte nie besonders viel Wert auf Körperkontakt gelegt, und so erschien ihr das sehr ungewohnt.
»Oh, Charlotte, es war so furchtbar! Ich bin nach oben gegangen, um ihm etwas Tee zu bringen, und er war überhaupt nicht mehr ansprechbar! Ich versuchte ihn zu rufen und zu schütteln, aber keinerlei Reaktion. Und niemand kann sagen, was mit ihm los ist! Sie haben ihn hier in der Notaufnahme und lassen mich nicht rein. Findest du nicht, ich sollte in seiner Nähe sein!? Und wenn er nun stirbt!«
Lilian schrie so laut, daß es im ganzen
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