Die Töchter der Lagune
durch den Rumpf des Schiffes, als seine Bordwand die steinerne Kaimauer touchierte. Und die beiden Männer hatten alle Hände voll zu tun, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Behutsam setzten sie die Füße auf die schmalen Planken, und als sie den Landungssteg erreicht hatten, stießen beide einen erleichterten Seufzer aus.
Während die Seemänner die Brigg entluden, hoben die beiden Venezianer den Blick zu den beeindruckenden Mauern der Zitadelle empor und bemerkten eine kleine Gestalt, die hüpfend den steilen Abhang zum Hafen hinuntergerannt kam. Außer Atem kam der Knabe schließlich vor ihnen zum Stehen, riss sich die Kappe vom Kopf und verbeugte sich linkisch. Er trug einfache, knöchellange Leinenhosen und ein ehemals weißes Hemd. „ Signori, ich führe Euch zur Zitadelle.“ Als er der verblüfften Gesichter der Neuankömmlinge gewahr wurde, setzte er hastig hinzu: „Die anderen sind damit beschäftigt, die Stadt zu verteidigen.“ Er hob die Schultern und die pechschwarzen Augen funkelten vor Stolz. „Deshalb hat man mir gestattet, den Hafen zu bewachen.“
Als sie schließlich – atemlos von dem anstrengenden Anstieg – im Hof der Festung ankamen, blickte sich der Knabe Hilfe suchend um, bis er zwei Gestalten entdeckte, die am anderen Ende des riesigen Innenhofes in ein Gespräch vertieft waren. Das Gesicht des Mannes war nur wenige Zoll von dem der Frau entfernt, und er hielt eine ihrer Hände zwischen den seinen. „Ich bin sofort wieder bei Euch“, entschuldigte sich der Knabe bei den Neuankömmlingen und stob davon. Als der Junge das Paar erreichte und auf die kleine Gruppe wartender Männer wies, wandte es neugierig die Köpfe in Richtung der Fremden. „Ist das nicht Eure Nichte Desdemona?“, fragte Lodovico überrascht, als er die blonde Lockenflut erkannte, die widerspenstig unter dem Kopftuch der jungen Frau hervorquoll. In dem einfachen braunen Kleid mit der weißen Schürze und den hochgekrempelten Ärmeln hatte er sie zuerst für eine Bedienstete gehalten. Gratiano kniff die Augen zusammen. In den vergangenen Jahren hatte sein Sehvermögen schwer nachgelassen, und es war ihm kaum möglich, die Umrisse des sich nähernden Mädchens von der staubigen Umgebung zu unterscheiden. „Ja, das ist sie“, stellte er schließlich fest, als sie kaum mehr zwanzig Fuß entfernt war.
„Willkommen, Signori. “ Sie neigte den Kopf vor Lodovico. „Onkel.“ Ein weiteres kurzes Nicken. „Ich muss mich für den Empfang entschuldigen.“ Sie unterbrach sich für die Dauer eines Atemzuges. „Oder eher den Mangel daran.“ Ihre Hände waren schmutzig, und Lodovico fiel auf, dass sie etwas unter dem Arm trug, das aussah wie ein Haufen alter Verbände. „Aber leider war Eure Ankunft gänzlich überraschend, und im Moment sind wir sehr beschäftigt.“ Sie hob bedauernd die Schultern. Seit ihrer Abreise von Venedig war sie erwachsen geworden, schoss es Lodovico durch den Kopf. Von dem unerfahrenen, wenn auch wild entschlossenen Mädchen, das in der schicksalhaften Nacht vor den Senat getreten war und seinem Vater das Herz gebrochen hatte, war nicht mehr viel übrig. Die Augen strahlten immer noch in demselben klaren Blau, doch schienen sie tiefer – und weiser. Respekt fordernd. Oder war es unterdrückter Schmerz, den er darin lesen konnte? Er konnte es nicht genau definieren, aber sie war fraulicher geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Gratiano schien gleichsam beeindruckt von ihr. Lodovico hatte befürchtet, dass sein Vetter die junge Frau mit bitteren Vorwürfen überschütten würde. Doch ihre zwanglose Art hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen, und er starrte sie mit kaum verhohlener Begeisterung an.
„Ich habe nach einem Bediensteten geschickt. Er wird Euch Euer Quartier zeigen“, unterbrach sie seine Gedanken sachlich. Die Augen der Männer wanderten an ihr vorbei zu dem Offizier, der immer noch an der niedrigen Mauer am anderen Ende des Hofes lehnte. Desdemona folgte ihren Blicken. „Das ist Oberstleutnant Cassio. Er hat mich gerade davon in Kenntnis gesetzt, wie die Dinge an der Front stehen.“ Er konnte nicht sagen, warum, aber irgendwie hatte Gratiano das Gefühl, dass seine Nichte in diesem Punkt nicht ganz die Wahrheit sagte. Warum war der Oberstleutnant nicht auf den Zinnen, wo er hingehörte? Bevor er den Gedanken jedoch weiterspinnen konnte, eilte ein kleiner Mann in der Livree eines Dieners auf sie zu. „ Signori ! Willkommen, Signori !“
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