Die Töchter der Lagune
grob zu Boden geschleudert hatte. Um sie herum war das Lager in lautes Schreien, Fluchen und Klirren ausgebrochen, als die Belagerer – scheinbar zurückgeschlagen – von dem Sturm auf die Mauern der Stadt zurückkehrten. Die meisten der Männer waren schmutzig und übellaunig, und einige der venezianischen Gefangenen hatten so ernsthafte Verletzungen davongetragen, dass Elissa bezweifelte, dass sie die Nacht überleben würden. Das Donnern der Hufe der berittenen Bogenschützen ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern. Sie musste gegen den beinahe unwiderstehlichen Drang ankämpfen, den stöhnenden Männern zu helfen, die sich auf dem mit Exkrementen bedeckten Stroh in dem groben Pferch wälzten. Zwei von ihnen – kaum älter als sie selbst – weinten wie kleine Kinder. Wenn man sie fasste, würde Selim mit Sicherheit einen Weg finden, sie zu bestrafen, ohne seinem Kind zu schaden, und sie erschauerte bei dem Gedanken. Sie hatte nur ein paar Minuten!
Als sie ihn schließlich entdeckte, war sie entsetzt über den Anblick seines Gesichtes. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, und die linke Seite seines Kopfes wirkte, als ob ihm jemand einen Prügel über den Schädel gezogen hätte. Auf seiner Wange klebte schwarzes, angetrocknetes Blut und die Augen waren zugeschwollen. Der Rest schien jedoch unversehrt. Er war ihre einzige Hoffnung. Obgleich sie sich dafür verachtete, ihre eigenen Interessen in einer Situation wie dieser in den Vordergrund zu stellen, hatte sie keine andere Wahl. Seit dem unheilvollen Missverständnis, das dank Mustafa Pascha in letzter Sekunde aufgeklärt worden war, hatte sie beinahe jede Nacht wach gelegen und sich den Kopf zermartert, wie ihr die Anwesenheit der anderen Venezianer zur Flucht verhelfen könnte. Und endlich hatte sie das Offensichtliche gesehen. Wenn Neslihan und sie einen Fluchtversuch unternahmen, würde jeder Mann im Lager nach zwei Frauen Ausschau halten. Allerdings würde niemand – sollten sie verschwinden – zwei Knaben, die Botengänge für ihre Offiziere erledigten, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zollen. Alles, was sie brauchte, waren Männerkleider. Ihr selbst war es unmöglich, so etwas zu beschaffen, aber für die venezianische Geisel, die von Mustafa Pascha bis jetzt mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden war, wäre es ein Leichtes.
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Zypern, Famagusta, 29. Juni 1571
„Oh, Dio mio, ich wusste es!“ Angelina schloss Cassio überschwänglich in die Arme, ließ jedoch erschrocken von ihm ab, als er mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzuckte. Die Schulter des vormaligen Oberstleutnants war von einem der osmanischen Pfeile durchbohrt worden, aber er hatte Glück gehabt. Die Pfeilspitze war, ohne größeren Schaden anzurichten, glatt über dem Schulterblatt wieder ausgetreten. Er war vernünftig genug gewesen, den Schaft in der Wunde zu lassen, um zu verhindern, dass die Verletzung verunreinigt wurde oder ausblutete. Und Angelina, die nach scheinbar endlosen Tagen des Kummers zu ihren Pflichten zurückgekehrt war, hatte ihn mit einer ruckartigen Bewegung herausgezogen und die Wunde verarztet. Als sie Cassio das Beißholz aus dem Mund nahm, wandte er sich schnell ab und erbrach sich mit totenbleichem Gesicht in die Grube hinter den zischenden Kohlebecken.
„Ich wusste es!“, wiederholte sie zuversichtlich. Sie war in ihrer verriegelten Kammer dem Wahnsinn nah gewesen, hatte sich die furchtbarsten Gräueltaten ausgemalt, die ihrem Gemahl von den Ungläubigen angetan werden konnten, bis sie in der vergangenen Nacht auf einmal ein merkwürdiges Gefühl der Gewissheit ergriffen hatte. Urplötzlich war die Verzweiflung von einem Aufflammen warmer Hoffnung aus ihrem Verstand getrieben worden. Ohne Vorwarnung hatten alle Nerven in ihrem Körper zu prickeln begonnen und sie an Francescos Furcht teilhaben lassen. Das Gefühl hatte sie ebenso unvermittelt durchzuckt wie die darauf folgende Erleichterung – beinahe als sei sie ein Teil von ihm. Die Empfindung war so machtvoll, dass sie sicher war, dass ihr die Phantasie keinen Streich spielte.
„Wir haben sie rechtzeitig genug erkannt, um das Feuer zurückzuhalten“, flüsterte Cassio und wischte sich mit dem Ärmel seiner zerschlissenen Uniform den Mund, während er um Haltung rang. Der stechende Schmerz, der ihm den Atem geraubt hatte, verwandelte sich langsam in ein dumpfes Pochen, das Richtung Schädel wanderte. „Ich habe ihn mit den Türken abziehen sehen.“ Er
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