Die Töchter der Lagune
Umschwung von dem wunderbar sonnigen Wetter der vergangenen Wochen zu dem bleiernen Grau dieses Morgens lastete schwer auf seinem Gemüt. Nicht nur, dass er sich alt und müde fühlte, es erstickte auch seinen Appetit sowohl auf die Liebe als auch auf die Freuden des Gaumens. Er klatschte in die Hände, und als der kahl rasierte Knabe, der vor der Tür darauf gewartet hatte, dem Sultan zu Diensten zu sein, die Stirn von dem prächtigen Fliesenboden hob, befahl ihm Selim knapp: „Geh und hole Achmed.“ Der Junge berührte mit der Nase die Kacheln und eilte davon, um auszuführen, was ihm aufgetragen worden war, wobei die kleinen Silberkettchen um seine Fußgelenke bei jedem Schritt klimperten.
Mit einem tiefen Seufzer ergriff Selim das kostbare Schachbrett und trug es in den Teil des Raumes, der von einem Hypocaustum beheizt wurde – einem ausgeklügelten System ausgehöhlter Baumstämme, durch die heißes Wasser oder Dampf geleitet wurde. Er setzte es auf einem niedrigen Tischchen ab und sank auf eines der dicken Seidenkissen, die an allen vier Enden von Quasten geziert wurden. Das Spiel war ein Geschenk seines Vaters gewesen. Ein reicher Kaufmann hatte das außergewöhnlich schöne Stück auf einer seiner Reisen in den Fernen Osten erworben. Die schwarzen und weißen Felder bestanden aus Ebenholz und Elfenbein, und die kunstvoll gearbeiteten Figuren waren von fremdartiger Gestalt. Das Geräusch des Öffnens der Flügeltür ließ ihn aufblicken, und als derjenige, der soeben den Raum betreten hatte, Anstalten machte, sich vor ihm zu Boden zu werfen, winkte er nachlässig ab.
„Setz dich, Achmed“, lud er den schlanken Mann in dem leuchtend orangefarbenen Kaftan ein. „Ich danke Euch, Erhabener“, erwiderte der Gast, bevor er anmutig die Beine unter sich verschränkte. Er legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich tief. „Ich brauche Ablenkung“, ließ Selim ihn wissen. Sein kühler Blick ruhte auf dem ausdruckslosen Gesicht des Hofbeamten, ohne den die kleine Stadt des Topkapi Palastes nicht ganz so reibungslos funktionieren würde, wie sie es zweifellos tat. Dieser fähige und vollkommen zuverlässige Staatsdiener trug die Verantwortung für die Auswahl und Anwerbung der meisten Palastbediensteten. Ohne ihn wäre Selim bereits tot.
Im vergangenen Jahr hatte einer seiner mächtigen Feinde einen falschen Koch in die Palastküchen eingeschleust, dessen Aufgabe es gewesen war, Selims Speisen zu vergiften. Achmed war aufgefallen, wie der Mann sich dem Sultan mit einer silbernen Platte voller köstlicher Meeresfrüchte näherte. Und da er sich sicher war, das Gesicht noch niemals zuvor gesehen zu haben, hatte er augenblicklich die Janitscharen links und rechts der Türen alarmiert. Diese hatten den Eindringling zu Boden geschleudert und ihn mit ihren Waffen bedroht. Dem Verräter war nichts anderes übrig geblieben, als seinen mörderischen Plan mit hassverzerrtem Gesicht zu gestehen. Selim hatte ihn auf der Stelle hinrichten lassen. Sein getrockneter Schrumpfkopf zierte immer noch seine Trophäenkammer. „Schwarz oder weiß, Achmed?“, fragte er sein Gegenüber. Es war ein Ritual, dem sie sich jedes Mal unterzogen, wenn sie sich zum Schachspielen trafen. „Schwarz, oh Beherrscher der Gläubigen.“ Achmeds Augen waren niedergeschlagen, und er vermied es, dem Blick des Sultans zu begegnen. Selim genoss dieses Spielchen ungemein. Sie beide wussten, dass Achmed der bessere Spieler war, dass seine strategischen Fähigkeiten denen Selims weit überlegen waren. Doch nachdem er seinem Herrn zuerst scheinbar schwer zusetzte, verlor er plötzlich jeglichen Kampfeswillen und begann, törichte Züge zu machen, bis Selim schließlich ein triumphierendes „Schachmatt“ ausrufen konnte.
*******
Marmarameer, an Bord eines osmanischen Schiffes, Januar 1571
Elissa konnte den Wandel ihres Schicksals kaum glauben. Der Eunuch hatte die Kajüte verlassen. Und nachdem sie sich versichert hatte, dass all die kleinen Fensterchen und Luken geschlossen und verdunkelt und die Tür bewacht war, hatte sie sich aus den beschmutzten und übel riechenden Überresten ihres einstmals prächtigen Gewandes geschält und sie den Flammen eines kleinen Kohlebeckens übergeben. Dann war sie in den dampfenden Zuber gestiegen. Paradiesisch! Sie ließ sich in das Bad sinken und seufzte, als das heiße Wasser über ihre Haut schwappte.
Ein Hustenanfall riss sie aus dem Schlaf. Sie war eingenickt und hatte
Weitere Kostenlose Bücher