Die Toechter Egalias
nichts mehr. Eigentlich war er ja auch erleichtert, daß Rut wieder zur Arbeit ging. „Um allen Scherereien aus dem Wege zu gehen“, fuhr sie fort, „will ich, daß dam dich sterilisiert.“ Einerseits fiel Kristoffer gewissermaßen ein Stein vom Herzen, daß Rut ihn sterilisiert haben wollte. Doch spürte er andererseits auch mit einer gewissen Angst und auch Wehmut, daß mit dieser Maßnahme seine Lebensaufgabe beendet sein würde.
Petronius hatte Kristoffer in dieser Zeit viel geholfen. Aber Rut schätzte es nicht besonders, daß Petronius Mirabello so oft zu ihr brachte. Es sei eine natürliche Aufgabe des Vaters, das Kind zur Mutterbrust zu bringen, meinte sie. Doch hatte sie sich grollend damit abgefunden. „Ja, ja“, sagte sie witzig zu ihren Kolleginnen, „eine Frau hat ja heute nichts mehr zu sagen. Diese Männer machen doch, was sie wollen.“
„Würdest du tatsächlich?“ fragte Kristoffer dankbar.
„Mmmmmm. Ich singe ihm das Lied von Rapinzel vor, das du mir vorgesungen hast, als ich klein war.“
Kristoffer küßte Petronius auf den Mund. Petronius umarmte seinen Vater und lächelte. Als sie beide so dicht beieinanderstanden, sah Petronius deutlich, wie schütter Kristoffers Haar in der letzten Zeit geworden war. Er war auch sonst schmal geworden und sah abgearbeitet aus. Bald mußte er eine Perücke haben, denn so konnte er unmöglich noch länger herumlaufen.
„Gute Nacht, Papa.“
Kristoffer drückte seine Hand, lächelte ihm sanft zu und verschwand mit gebeugtem Rücken im Schlafzimmer. Petronius ging zu Mirabello, der mit geöffneten Augen dalag und jammerte. Es gab nichts Niedlicheres auf der Welt, fand Petronius. Ganz behutsam stimmte er das Lied von Rapinzel an. Das Lied war eine alte Ballade über das schöne Jungherrlein in seinem Jungherrengemach, ganz oben in dem unendlich hohen Turm. Dort hatte ihn seine böse Mutter eingesperrt, denn keine sollte ihm die Tugend rauben. Und so saß er dort in seiner Einsamkeit und warf die prächtigsten Blumen aus dem Fenster. Woher er die Blumen hatte, darüber berichtete die Ballade nichts. Jedenfalls hatte er dort oben schon Monate und Jahre geschmachtet und Blumen aus dem Fenster geworfen. Sein Bart wuchs und wuchs. Er wuchs aus dem Fenster hinaus und an der steilen Mauer des Turmes hinunter. Eines Tages kam eine prächtige Dame vorbeigeritten. Die Brüste wippten elegant im leichten Trab. Rapinzel warf ihr eine Blume herunter. Die Dame hielt am Fuße des Turmes an, hob die wundersame Blume auf und spähte sehnsuchtsvoll zu dem schönen Jungherrn dort oben hinauf. Dann sang sie ein Lied nach dem anderen über ihr Unglück, nie zu ihm gelangen zu können. Währenddessen wuchs der Bart und wuchs und wuchs, bis zu ihr herunter, so daß sie sich an den Strähnen festhalten und zu dem Jungherrn hochklettern konnte. So bekam die vornehme Troubadoura ihren schönen Knaben, trotz des grausamen Einfalls der bösen Mutter. „Hat es denn am Bart nicht weh getan, Papa?“ hatte Klein-Petronius damals seinen Vater gefragt. Aber darüber erzählte die Geschichte nichts, und Petronius fand jetzt, daß es doch eine recht sonderbare Geschichte sei, weil die Troubadoura den Jungherrn so am Bart habe ziepen müssen, die Geschichte aber gar nicht davon handelte. Doch die Ballade hatte eine schöne Melodie, und deshalb sang er sie. Er sang sie aber auch, weil es ihn auf wunderbare Weise sorglos machte, wenn er an etwas Bekanntes dachte — selbst wenn es dumm war. Er stand am Fenster und sang alle Strophen. Als er bei der dritten angelangt war, schlief Mirabello schon, aber Petronius sang einfach weiter, während er hinaussah und sich danach sehnte, weit weg zu sein.
Vor dem Fenster unter der Straßenlaterne blitzte das nagelneue knallgelbe Elektro-Auto vom Typ Super Di-Smash 1313, das Bram sich vom Schwangerschaftsgeld angeschafft hatte.
Klassenarbeit in Geschichte
„In der Zeit des großen Aufstiegs (732 v. Kl. bis 213 n. Kl.) wurde Egalia als Staat organisiert. Zu Beginn dieser Periode wurden in Fallüstrien die ausgedehnten und reichen Eisenerzvorkommen entdeckt. Zwei große Eroberungszüge unter Führung der Felddame Siemanaricha (732 und 729 v. Kl.) führten dazu, daß die Nomadenstämme sich von den fallüstrischen Hochgebirgen in die weiten Ebenen im Osten zurückziehen mußten...“ Ba sah fahrig von dem Geschichtsbuch auf, während sie ihren Zeigefinger auf das Wort „mußten“ legte.
„Ach, habe ich nicht gelesen.“
Da aber alle anderen
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