Die Toechter Egalias
jubelte Bram orgiastisch. Die Leute klatschten. Kristoffer stand auf und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Bram grätschte die Beine und stieß ein lautes wonniges Geheul aus. Der Kopf wurde sichtbar. Kristoffer stand am Fußende und wartete. Der Chor sang den Geburtschoral, und das Brausen der Orgel steigerte sich zu einem letzten natalen Crescendo. Während der letzten Minuten des Geburtsvorganges frauschte völlige Stille.
Nach der Geburt des Kindes pflegte die Zeremonienmeisterin der Organistin und der Gemeinde durch Zeichen mitzuteilen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Bei einem Mädchen hielt sie die dreieckige Spitze des Zeremonienstabes hoch zur Decke, bei einem Jungen nach unten auf den Boden. Bei einem Mädchen wurde das Postludium in Dur, bei einem Knaben in Moll gespielt.
Es war ganz still. Bram atmete und arbeitete gewaltig. Alle waren sich bewußt, daß sie jetzt einer anderen, höheren Welt angehörte und daß dieser Augenblick im Leben einer Frau nie durch belanglose Laute gestört werden durfte.
Petronius hielt den Atem an und schloß die Augen. O Donna, laß es einen Bruder sein, laß es einen Bruder sein!
Der Kopf und die Schultern waren schon zu sehen. Kristoffer griff nach dem Kind, zog es vollständig heraus und legte es auf Ruts Bauch. Petronius starrte wie gebannt auf den Stab der Zeremonienmeisterin. Die Sekunden schienen ihm eine Ewigkeit zu dauern, da er nicht erkennen konnte, in welche Richtung sie den Stab drehen würde. Dann bewegte sich der Stab, die Spitze senkte sich langsam nach unten, und im selben Augenblick setzte die Orgel mit dem Postludium in Moll ein. Das Kind wurde abgetrocknet. Petronius hörte neben sich Bas enttäuschtes Seufzen. Das Publikum klatschte. Dann kam der Mutterkuchen hervor. Das Publikum klatschte wieder. Er wurde in seiner ganzen Pracht vorgezeigt, damit alle ihn sehen konnten. Bram schnitt die Nabelschnur durch. Das Kind verlegte sich aufs Schreien. Das Publikum klatschte schon wieder. Die Geburtshelferinnen hüllten den Jungen in ein schwarzes Tuch und übergaben ihn der Zeremonienmeisterin, die ihn feierlich in Kristoffers Arme legte. Der Chor sang das hinreißende Vaterschaftslied. Es begann einstimmig und endete als Kanon, denn dadurch sollte das Unaufhörliche der Vaterschaft unterstrichen werden, etwas, was weder Anfang noch Ende hatte.
Kristoffer ging zu seinen beiden Kindern. Ba starrte den kleinen Jämmerling nur an, während Petronius seinem runzlig-roten Brüderchen auf die Wange küßte und feststellte, er sei das goldigste Geschöpf, das er je gesehen habe. Das Brüderchen machte mit der Hand eine plötzliche Bewegung. Petronius legte seine Riesenpranke über das Händchen mit den fünf winzigen Fingern und spürte, wie warm sie waren und wie sie sich bewegten. Verstohlen blickte er zu Kristoffer, der ihn freundlich anlächelte.
Die Zeremonienmeisterin klopfte mit dem Stab auf den Boden und begann, die Geburtsmesse abzuhalten. Als sie vorbei war, sprang Bram vom Bett und ging zu Kristoffer und den Kindern. Alles löste sich in einem allgemeinen Durcheinander auf. Leute strömten herein und gratulierten. Sie wurden auf die große Marmortreppe gezerrt, damit Fotos von Bram mit Mann und Kindern gemacht werden konnten, und schließlich fuhren alle gemeinsam nach Hause, um den Geburtsempfang zu geben.
Als sie zu Hause ankamen, wurden sie vom großen Blasorchester der Direktorinnengesellschaft überrascht. Festlich gekleidet hießen sie die Geburtsgäste und die Mutter nebst Mann mit der Egalsunder Hymne „Töchter der Meeresbucht“ herzlich willkommen. Kristoffer hob den Neugeborenen hoch und winkte ihnen mit dessen Patschhändchen zu. Alle waren tief gerührt. Dann feierten die Brams drei Tage lang.
Stillzeit und Jünglingsträume
„Liebe Gro! Ich habe mich immer nach der Freiheit gesehnt...“ Was für ein idiotischer, rührseliger Anfang! Petronius starrte auf das Blatt Papier und dann aus dem Fenster seines Zimmers. Aber stimmte das denn nicht? Hatte er sich nicht immer nach der Freiheit gesehnt?
Er zerriß das Blatt und fing ein neues an. „Liebe Gro! Weißt du, es gibt da etwas, was mich schon lange beschäftigt und was ich Dir gerne erzählen möchte. Als vor drei Monaten mein kleiner Bruder geboren wurde und ich im Gebärpalast saß, kam mir der Gedanke, daß...“ Er hörte wieder auf und schaute aus dem Fenster. Es war dunkel draußen, und er konnte sich in den Scheiben sehen. Sein runder Kopf mit dem dünnen
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