Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
erkennen.
»Bitte«, wimmerte der Mann. »Tötet mich nicht. Tötet mich nicht.«
Einen Herzschlag lang herrschte Stille.
»TÖTET MICH NICHT!«
Sein Blick folgte der Richtung, die seine Ohren ihm vorgaben, glitt hinauf in das Blätterdach und richtete sich dann auf einen makellos weißen Fleck in der Dunkelheit. Von oben starrte ein Paar mattgrauer Augen über einer gewaltigen, hakenartigen Nase zurück, ohne zu blinzeln. Sie schwammen in dicken salzigen Tränen.
Ich sollte weglaufen, dachte er. Wahrscheinlich lauert das Abysmyth direkt hinter diesem Wesen.
»Nein.« Die Stimme antwortete langsam und rau. »Es stirbt.«
»Es stirbt«, wiederholte Lenk.
Die Zähne des Omens klapperten leise; gelbe Nadeln, die aufeinanderrasselten. Lenks Ohren zuckten, als er das Geräusch von feuchtem Fleisch hörte, das zerteilt wurde. Er sah genauer hin und erkannte einen abgetrennten Finger zwischen den Zähnen der Kreatur, der bei jedem Klappern der Zähne weiter zerfetzt wurde.
»Es gibt noch andere hier.« Lenks Stimme klang fern und schwach in seinen eigenen Ohren, als würde er durch Nebel zu jemandem sprechen, der nicht zu sehen war. »Sollten wir ihnen helfen?«
»Unwichtig«, antwortete die Stimme. »Menschen können sterben. Dämonen müssen sterben.«
»Richtig.«
Das Omen hoppelte über den Zweig und legte den Kopf schief, als es versuchte zu verstehen. Lenk blieb wachsam, ließ sich von der Fassade animalischer Unschuld nicht täuschen. Als würde die Kreatur das wittern, öffnete sie ihr breites Maul zu einem Grinsen, das die nadelspitzen Zähne entblößte, und die Reste des Fingers verschwanden mit einem Knirschen in seinem Schlund.
Sie raschelte mit den Federn und reckte dann den Kopf hoch, wie ein Gockel, der sich anschickte zu krähen, bevor sie das Maul öffnete.
»Ihr Götter, helft mir!« Die Stimme eines Mannes drang, schrill vor Entsetzen, aus ihrem Maul. »Irgendjemand, irgendeiner! HELFT MIR!«
Das nachgeäffte Flehen hallte vibrierend durch Lenks Körper. Sein Arm spannte sich an, und er zog sein Schwert aus der Scheide. Als wollte es spielen, raschelte das Omen erneut mit den Federn, drehte sich um und hüpfte in das dichte Laubwerk des Blätterdachs.
»Es will Hilfe«, murmelte Lenk, der zusah, wie der weiße Fleck im Grün verschwand.
»Dann werden wir ihm helfen.«
Seine Beine fühlten sich taub an, als sie sich mühelos über den Erdboden bewegten, und das Schwert lag plötzlich so leicht in seiner Hand, dass er es nicht mehr spürte. Er ahnte, dass er sich deswegen Sorgen machen müsste, ebenso wie es ihm zu denken geben sollte, dass er einem dämonischen Parasiten in das Dickicht folgte. Aber er achtete nicht auf diese Bedenken.
Der hallende Ruf des Sterbenden schien von jedem Zweig herabzuhängen, unter den er sich duckte.
Katarias Ohren zuckten. Es war sehr still auf Ktamgi.
Insekten summten in der Ferne; sie hörte, wie ihre Flügel gegen ihre Chitinpanzer schlugen. Vögel stießen undeutliche Flüche aus; sie hörte, wie ihre Zungen sich in ihren Schnäbeln
bewegten. Das Geräusch von Wasser, das über den Sand glitt, und das der Wolken, die über den blauen Himmel zogen, war weit entfernt.
Sie lächelte. Um wie vieles klarer alles ist, dachte sie, ohne Menschen.
Sie hatte sich mittlerweile an ihre Geräusche gewöhnt, an den Lärm, ihr Gejammer und ihre Flüche. Sie hatte sich mit der menschlichen Plage infiziert, was sie in dem Moment erkannte, als reine Luft ihre Lungen füllte, die frei von dem Gestank von Schweiß und Blut war. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie lächelte strahlend.
Zeit, ernsthaft auf die Jagd zu gehen.
Sie hatte kaum zehn Schritte getan, als sie die Fährte sah. Es mochte ein Zufall sein, dass sich ihr die Spur erst zeigte, nachdem sie Lenk hinter sich gelassen hatte, aber sie entschied sich, das als Segen zu betrachten. Sie hockte sich auf den Boden und riss die Augen auf, als ihr klar wurde, dass sie diese Abdrücke in der feuchten Erde kannte und sich außerdem zu früh gefreut hatte.
Menschen.
Die Vorstellung, dass sich Menschen, Menschen, die nicht die ihren waren, auf Ktamgi aufhielten, verbesserte ihre Laune nicht gerade. Andererseits war es auch nicht völlig überraschend. Argaol hatte schließlich gesagt, dass einige Mannschaftsmitglieder der Kettenhexe entkommen waren. Außerdem war die Insel ein Schlupfwinkel der Piraten gewesen.
Warum also hätten sie nicht herkommen sollen?
Die Spuren stellten ihr Fragen, und ihre
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