Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
gesehen hatten. Er selbst konnte die Ereignisse kaum fassen, als er auf die von Splittern gesäumten Dellen auf dem Deck blickte.
Diese Kreatur sollte nicht existieren. Sie hätte ein Wesen aus dem Gestammel von Betrunkenen und den Geistergeschichten bleiben sollen, wie jeder andere Schrecken aus der Tiefe. Aber er hatte sie gesehen. Er hatte ihre toten Augen gesehen, hatte ihre erstickte Stimme gehört, ihre ledrige Haut gefühlt. Zerstreut griff er nach einem Schwert, das er nicht bei sich hatte, während er sich an den Kampf erinnerte; er sah die Kreatur vor sich, unverletzt von den Hieben, die ihm Gariath, er selbst und auch Moscoff versetzt hatten.
»Oder war es Mossud?«
Die Seeleute hielten wie ein Mann in ihrer Arbeit inne und sahen zu Lenk hinüber. Er bemerkte, wie sie lautlos den Namen wiederholten, bevor sie sich wieder ihren Pflichten zuwandten.
Die Augenblicke nach dem Verschwinden der Kreatur kehrten in einer Flut von Bildern wieder. Asper hatte sich um den gefallenen Seemann gekümmert, hatte neben seinem reglosen Körper gekniet und auf seine schleimbedeckte Visage geblickt. Er erinnerte sich an ihre grimmige Miene, als sie hochschaute und den Kopf schüttelte.
»Er ist tot«, hatte sie gesagt. »Ertrunken.«
Lenk wurden plötzlich die Knie weich, und er musste sich an der Reling festhalten. Ertrunken auf trockenem Boden, dachte er. So etwas passiert einfach nicht.
Woher kam eine solche Kreatur? Was für ein rachsüchtiger Gott hatte einen solchen Feind erschaffen, dem Stahl nichts anhaben konnte und der Menschen ohne Wasser ertränken konnte? Welcher gnädige Gott würde einer solchen Kreatur erlauben, in dieser Welt zu existieren?
Götter, so hatte er herausgefunden, waren selten für etwas anderes gut als für einfallsreiche Flüche und gelegentliche Wunder, die jedoch niemals wirklich passierten. Er
lehnte sich an die Reling und blickte auf das Meer hinaus, als würde er ein Netz auswerfen, um eine Antwort zu fangen, eine Erklärung für das Grauen, das er gesehen hatte. Er wusste, dass er keine finden würde.
Kataria beobachtete Lenk vom Oberdeck aus, und ihre Miene war zutiefst besorgt.
Seine Schwermut beunruhigte sie mehr, als sie eigentlich sollte, so wie die Schlacht ihn stärker beunruhigt hatte, als das eigentlich hätte sein sollen. Blutvergießen, das wusste sie, machte einen so großen Teil ihres Lebens aus, dass sie deswegen nicht mehr innehielten, um darüber nachzudenken. Dass er jetzt regungslos dastand, kaum atmete und in die Ferne starrte, veranlasste sie, dasselbe zu tun.
Sie hatte das eisige Glühen in seinem finsteren Blick bemerkt. Seine Gedanken drehten sich zweifellos um die Toten. Er trauerte nicht; Lenk trauerte niemals. Der Tod des jungen Seemanns war keine Tragödie für ihn, das wusste Kataria, aber ein Rätsel, eine unklare Frage ohne eine befriedigende Antwort.
Unter Deck dagegen trauerten andere. Sie fragten sich dasselbe, mit tränenreichen Flüchen. Ihre Gegenwart war der Grund, warum sie auf dem Oberdeck war, weit weg von den Menschen.
Ihr Magen knurrte hungrig.
Das war Grund genug, sich von ihnen fernzuhalten.
Keiner von ihnen würde jemals verstehen, wie man in einem solchen Moment hungrig sein konnte, während sie alle ihre Emotionen und Tränen herunterschluckten, die sie nicht zu vergießen wagten, so wie sie unfähig war, ihre Trauer zu verstehen. Ganz gleich, wie oft sie auch versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen, zu begreifen, dass sie Freunde verloren hatten, immer kam ihr derselbe Gedanke.
Dutzende von Menschen waren gestorben, gewiss, aber eben nur Dutzende von Menschen. Die Welt hatte noch Tausende übrig. Selbst jene, die diesen Tag überlebt hatten, würden
vermutlich nur noch ein paar Jahre leben. Was machte diese wenigen so besonders? Und was, wenn es Shict gewesen wären?
Sie schüttelte den Kopf. Es waren natürlich keine Shict gewesen. Wenn doch, würde sie gewiss anders empfinden. Aber dass sie Menschen waren, schwächliche, engstirnige und sterbliche Menschen, verhinderte, dass sie so etwas wie Bedauern fühlte.
Erneut glitt ihr Blick zu Lenk hinüber, der auch ein Mensch war.
Der junge Seemann und Lenk; beides Menschen, und ihre Verschiedenheiten zu unbedeutend, um sie zu registrieren. Warum also dachte sie bei dem einen ans Essen und konnte ihren Blick einfach nicht von dem anderen lassen?
»Sind wir so faszinierend?«
Beim Klang der Stimme drehte sich Kataria um und betrachtete die Serrant ruhig. Die große
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