Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
Er erinnerte sich daran, wie er es in ein erlöschendes Feuer geschleudert hatte. Er hatte in dieser Nacht vergessen, es zu schüren. Normalerweise tat das jemand anders.
Aber in jener Nacht war niemand da gewesen, der es hätte schüren können.
Finster blickte er zur Tür zurück. Es war eine Lektion, die er gelernt hatte. Er wusste, dass die Götter ohnmächtig und gleichgültig waren. Ganz sicher würde er nichts gewinnen, wenn er ins Obergeschoss stieg.
Gar nichts ...
Er tat es trotzdem. Die Schatten beklagten seine Rückkehr und sprachen zu ihm von dem langen Flur, über den er einst hin und her gelaufen war. Sie warnten ihn davor, in den Raum am anderen Ende zu gehen. Er hörte nicht auf sie.
Und er sah die Schatten in dem kleinen, verfallenen Raum. Er sah die Schatten eines kleinen, verfallenen Kinderbettes. Es war winzig gewesen, hastig zusammengezimmert, weil das Mädchen, das darin schlief, seiner Krippe entwachsen war.
Er lächelte. Die Schatten mussten ihn nicht daran erinnern, wie er neben diesem Bettchen gesessen und Geschichten erzählt
hatte. Er erinnerte sich auch ohne ihre Hilfe an sie: Der Krake und der Schwan, Der alte König Schmetterkopf, Wie Zamanthras Tohas Sand blau gefärbt hatte. Er erinnerte sich an die Versprechen, die er neben diesem Bett gegeben hatte. Dass das Mädchen, das darin lag, eines Tages nach Toha segeln und den blauen Sand sehen würde. Dass es eines Tages ein Schiff kommandieren würde, viel größer als sein winziges Fischerboot. Dass er ihm in ein paar Monaten ein größeres Bett bauen würde, so schnell, wie es wuchs.
Doch nur wenige Tage später hörte das Mädchen, das in diesem Kinderbettchen lag, auf zu wachsen.
Das mussten ihm die Schatten nicht sagen. Er erinnerte sich von allein daran.
Doch die Schatten blieben nicht stumm. Die Schatten sprachen zu ihm von dem Heiler, der neben dem kleinen Bett gekniet hatte. Sie sprachen von einem Kopf, der geschüttelt wurde, von Augen, die sich schlossen, von Beileid, das ausgesprochen und von einem Arrangement, das empfohlen wurde. Die Schatten sprachen von Drohungen, von Flehen, von Gebeten, die er dem Heiler angeboten hatte, seinem Talanas, seiner eigenen Zamanthras, jedem Gott, der ihm Gehör schenken wollte.
Kein Gott antwortete. Kein Gott antwortete jemals.
Die Schatten sprachen von dem Tag, an dem dieses kleine Kinderbett leer blieb. Sie sprachen von dem Tag, als er danebensaß, den Kopf in die Hände gestützt. Die Schatten sprachen von dem Tag, an dem er seine Hände gegen seine Ohren presste, um das Geräusch der Wellen nicht hören zu müssen, der Wellen, in welchen das Mädchen jetzt ruhte.
Hier endeten die Erinnerungen der Schatten. Und auch die seinen hörten auf. Es war der Tag, an dem er nicht mehr länger Nachbar war, nicht mehr Vater, nicht mehr Sklave der Götter.
Er kniff die Augen zusammen. Das war der Tag, in dessen Stille er die Stimme der Abgründigen Mutter vernommen hatte. Es war der Tag, an dem er seinen Namen vergessen
hatte. Der Tag, an dem der Mund die Schatten und das Holz und die Stadt vollkommen hinter sich gelassen und geschworen hatte, nicht zurückzukehren, bevor er die Welt verändern konnte.
Jetzt war er zurückgekehrt. Jetzt konnte er es tun.
Er starrte auf die Phiole mit Mutters Milch. Das war es, was die Veränderung bewirken würde. Hiermit würde die Welt verändert werden. Mutter würde befreit. Doch damit Sie richtig regieren konnte, damit Sie die Menschheit aus ihrer blinden Finsternis führen konnte, brauchte Sie einen Gefährten.
Vater musste befreit werden.
Und das hier war der Schlüssel, hiermit würde Daga-Mer aus dem Gefängnis geholt werden, in das er so grausam geworfen worden war. Dies hier würde nach der Abgründigen Mutter rufen, Sie aus dem Aeonstor treten lassen, damit Sie Ihre Kinder und dadurch alle Sterblichen führen konnte. Und all dies würde sich zutragen... durch ihn.
Denn er wusste, wo Daga-Mers Gefängnis lag; er hörte den Ruf Vaters, er hörte das schwache Schlagen seines Herzens in seinem Schlummer. Er schloss die Augen, ließ alle Erinnerungen von sich abfallen und füllte seine Gedanken stattdessen mit dem Geräusch des Herzschlags, dem Klang der Veränderung, die eintreten würde.
Alles, was er hörte, war jedoch eine Tür, die zufiel, und Schritte auf dem Boden.
Narr!, schalt er sich. Sie wissen es. Sie kommen dich holen. Du hast zu viel Zeit verschwendet. Flüchte! Das Gewicht des Dolches aus Fischknochen in seiner anderen Hand
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