Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
drehen. Er brachte es kaum über sich, sich deswegen Sorgen zu machen. Sein Verstand wirkte irgendwie distanziert, als wäre der Raureif, der seinen Körper bedeckte, auch
in seinen Kopf gesickert, durch den Knochen hindurch in sein Gehirn.
Das Gefühl von Bewegung war ihm abhandengekommen. Er konnte nicht einmal den Himmel erkennen, als zwei Frauen seine Arme und Beine packten und ihn auf den Rücken kippten. Sie folgten Yldus und Qaine, trugen ihn den Hügel herunter, als wäre er nur ein fleischgewordenes blaues Möbelstück.
»Tage, sagt sie«, murmelte eine von ihnen. Ihre Stimme klang gedämpft an seine Ohren. »Wie kann jemand von uns verlangen, so lange zu warten?«
»Der Meister verlangt Geduld«, antwortete die andere.
»Der Meister verlangt eine Menge«, grollte die erste Frau. »Aber er verlangt nie von den Frauen, ihre Schwerter zu zähmen.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Und er verlangt nur sehr selten von den Frauen der Niederlinge, etwas für ihn zu tun, so besessen ist er von den Röschen ...«
»Niemand kritisiert den Meister!«, knurrte die andere. »Überlass die Beschwerden den Kurzhänden.« Sie warf einen Blick über die Schulter auf die anderen Frauen. »Schwächlinge.« Ihr Blick glitt zu Naxiaw. Sie starrte in seine weit geöffneten, von Raureif überzogenen Augen. »Dieses Ding ist kaum schwerer als ein Stück Metall. Wie konnte es die beiden anderen töten?«
»Wie du schon sagtest, sie waren Kurzhände, die so taten, als wären sie echte Kriegerinnen. Sie hätten bei ihren Bögen, den Waffen für Schwächlinge, bleiben sollen, statt zu glauben, sie verstünden etwas davon, wie man ein Schwert führt.« Sie schnaubte und spie aus. »Sie sterben als Erste, wenn wir angreifen.«
»Sie können nicht einmal richtig sprechen. Was sagte die eine noch, bevor sie starb?«
»›Aufschlitzen, enthaupten, zermalmen.‹«
»Das ist doch nicht richtig. Es muss heißen ›Aufschlitzen, enthaupten, vernichten‹, oder?«
»Richtig. Zermalmen bedeutet, etwas unter seinem Absatz
zu zertreten und den Kadaver in einem Haufen seiner eigenen Eingeweide zurückzulassen. So etwas machen Menschen mit Ungeziefer.«
»Und was bedeutet ›vernichten‹?«
»Das bedeutet, nichts zurücklassen. Kurzhände können sich nicht einmal diesen albernen Schlachtruf merken.« Die andere hob Naxiaw ein Stück an, als unten am Strand ein schlankes schwarzes Schiff auftauchte. »Deshalb sind sie jetzt auch tot.«
Lenk war noch nie wirklich in einer Situation gewesen, in der er die Natur einfach hätte genießen können. Sie war immer etwas gewesen, das er hatte überwinden müssen: endlose Ebenen und Hügel, gnadenlose Stürme, Eis, brennende Meere von Bäumen, Sand, Salz und Marsch. Natur war ein Feind.
Kataria hatte ihn dafür immer gescholten.
Jetzt war Kataria fort.
Lenk fiel es dadurch kein bisschen leichter, die Natur zu genießen. Das Mondlicht schien durch das dichte Blätterdach, ohne sich von den Versuchen der Bäume, es fernzuhalten, abschrecken zu lassen. Der plappernde Bach, der sich über den Boden des Waldes schlängelte, wurde zu einer Schlange aus Quecksilber, die unter Wurzeln dahinglitt, über winzige Wasserfälle rieselte und schließlich irgendwo mündete. Wo, interessierte ihn nicht im Geringsten.
Als er den Bach gefunden hatte und daraus trank, hatte er dem Gott gedankt, der ihn ihm geschickt hatte. Als er mit dem Wasser seine schmutzigen Wunden reinigte, waren diesem Dank glühende Versprechen von Konvertierung und Märtyrertum gefolgt.
Mittlerweile war das Rinnsal nur ein weiterer endloser Schrei der tausendstimmigen brüllenden Symphonie des Forsts. Seine Freude hatte nicht einmal eine Stunde gedauert,
bevor er angefangen hatte, die Götter dafür zu verfluchen, ihn in dieser weichen grünen Hölle im Stich gelassen zu haben.
Unter dem grünen Baldachin herrschte ein mörderischer, lärmender Krieg: Die Vögel, klapprige, geflügelte Schurken, stimmten ihre klagenden Nachtlieder im Wettstreit mit den Affen an, ihren verhassten Rivalen, die heulend die Bäume schüttelten.
Sein Blick glitt zwischen die Bäume, suchte nach einem dieser lärmenden Krieger, nach irgendeinem dieser widerlichen, kleinen Dinger. Sein Schwert lag in seinem Schoß und zuckte im Takt mit seinen Augenlidern, während sein Blick unaufhörlich wie ein Pendel von links nach rechts glitt.
Aber keines von ihnen zeigte sich. Er sah weder ein Haar noch eine Feder. Vielleicht sind sie nicht einmal da, dachte er.
Weitere Kostenlose Bücher