Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
er sich seiner Sache noch nicht ganz sicher war.
Aber er wollte diese Gelegenheit unbedingt nutzen. Erik hatte das Gefühl, dass er Björn ein Stück näher kam, wenn er mit Dr. Baron über ihn reden konnte. Es kam ihm so vor, als wäre er ihm bereits auf den Fersen, wenn er begreifen konnte, warum dieser junge Mann mindestens einen Menschen umgebracht hatte.
Dr. Baron war nicht erstaunt gewesen, als Erik ihn anrief. Er hatte schon in der Zeitung von Ulla Andresens Ermordung gelesen und im Radio die Suchmeldung gehört. Daher wusste er auch, dass Björn Mende in dringendem Verdacht stand, Ulla ermordet zu haben. Zum Glück redete Dr. Baron nicht mehr von seiner ärztlichen Schweigepflicht, sondern war der Meinung, dass diese Dramatik es rechtfertigte, über seinen Patienten zu sprechen. »Zumal sie beide in einer Therapiegruppe waren, in der sowieso offen geredet wurde. Was ein Patient dort preisgibt, kann nicht der Schweigepflicht unterliegen, schon gar nicht der ärztlichen. Er muss ja zum Beispiel damit rechnen, dass andere von den Gruppengesprächen erzählen.«
Erik dachte an Gaby Woicke. Wie Recht Dr. Baron hatte! »Sie haben aber auch Einzelgespräche mit Björn Mende geführt?«
»Richtig. Ulla Andresen dagegen hat sich nur an den Gruppengesprächen beteiligt.«
Erik versicherte, dass es ihm hauptsächlich darauf ankam, Björn Mende zu verstehen. Fakten, die die Beweislage sicherten, erwartete er von Dr. Baron nicht. Daraufhin war der Psychiater ohne Weiteres bereit gewesen, ihn zu empfangen. Und das, obwohl Sonntag war.
Dr. Detlef Baron war ein großer, vierschrötiger Mann, der in einem kanadischen Holzfällercamp nicht weiter aufgefallen wäre. Seine Augen dagegen waren sanft und gleichzeitig aufmerksam. Er praktizierte im vierten Stock eines Altbaus in der Nähe des Hafens. Anscheinend hatte er seine psychiatrische Praxis in seine Wohnräume integriert. Kinderstimmen drangen durch die Wände und gelegentlich das helle Rufen einer Frau.
Erik nahm in einem großen Raum Platz, in dem augenscheinlich die Gruppentherapie abgehalten wurde. Ein Stuhlkreis für etwa ein Dutzend Patienten war aufgestellt worden, Dr. Baron zerstörte ihn, indem er einen Stuhl in den Kreis hineinrückte und sich Erik gegenübersetzte.
»Björn Mende soll also ein Mörder sein?«
Erik nickte. »Es spricht alles dafür. Wir haben zwei DNA -Tests.«
Dr. Baron hob die Augenbrauen. »Zwei?«
»Björn Mende steht nicht nur im Verdacht, Ulla Andresen ermordet zu haben, alles spricht dafür, dass er auch der Mörder von Christa Kern ist.« Erik sah, dass Dr. Baron mit dem Namen nichts anfangen konnte, und ergänzte: »Seine Stiefmutter.«
»Ach, du meine Güte!« Dr. Baron sah sorgenvoll drein. »Ein schwieriger Fall«, murmelte er. »Leider hat er die Gruppentherapie abgebrochen. Dabei tat sie ihm so gut! Ich weiß nicht, warum er nicht mehr gekommen ist. Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber er ging nie ans Telefon.«
»Er lebte in der letzten Zeit auf Sylt.«
Dr. Baron sah überrascht auf. »Bei Ulla?«
»In Ullas Nähe. Er hat bei ihrem Mann gearbeitet.«
Dr. Baron stieß die Luft aus. »Warum bin ich nicht selber darauf gekommen? Er klammerte sich ja an Ulla. Seit er sie kannte, glaubte er wieder an ein normales Leben.«
»Normales Leben? Was meinen Sie damit?«
»Ein Leben ohne Pornos und Onanie.« Er blickte auf und sah in Eriks überraschtes Gesicht. »Sein Leben hat sich jahrelang nur darum gedreht. Pornos und Onanie. Er litt an Sexsucht. Ob er geheilt ist? Ich wage es zu bezweifeln.«
»Sexsüchtig als Folge des sexuellen Missbrauchs?«
Dr. Baron nickte. »Wenn von sexuellem Missbrauch die Rede ist, denkt fast jeder an männliche Täter und die Mehrzahl an weibliche Opfer. Aber es gibt eben auch die weiblichen Täter und ihre männlichen Opfer. Die Täterinnen sind meist schwache Persönlichkeiten, die auf dominante Personen unterwürfig reagieren und bei schwachen Personen dominieren. Die Stiefmutter war anscheinend mit einem dominanten Mann verheiratet, auf den sie so unterwürfig reagierte, wie er das von ihr erwartete. Sie litt aber darunter, und das kompensierte sie, indem sie die Dominanz an seinen Sohn weitergab. Als Björn elf war, hat sie den ersten Porno mit ihm zusammen gesehen. Bilder, die der Junge nie aus seinem Kopf bekam. Kurz darauf fing er an zu onanieren. Am Ende hielt er es kaum eine Stunde irgendwo aus, ohne sich zu befriedigen. Weil es ihm dann besser ging, weil dadurch für
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