Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
der ersten Jahrgänge zu betreuen. So hatte sie Gelegenheit gehabt, ihre pädagogischen Fähigkeiten zu erproben, und war deshalb ebenso zufrieden wie ihr Bruder mit dem Ergebnis des Sportfestes. Beide waren in der Turnhalle mit Müslistangen und Milchgetränken versorgt worden und daher ohne Weiteres damit einverstanden, das vorbereitete Mittagessen nicht anzutasten, damit es ein Abendessen wurde.
»Wir könnten eine Radtour machen«, schlug Felix vor und wandte sich an seine Schwester. »Lass uns der Nonna das Wattenmeer zeigen. Das kennt sie noch nicht.«
Mamma Carlotta hatte zwar heimlich von einem Nachmittag im Sessel vor dem laufenden Fernseher geträumt, aber sie schluckte den Wunsch herunter. Nein, es gab nichts Schöneres, als mit ihren beiden Enkelkindern einen Nachmittag am Watt zu verbringen. Und als sie unterwegs mehrfach von ihnen wegen ihrer Radfahrkünste gelobt wurde, war Mamma Carlotta glücklich, dass sie auf die Siesta verzichtet hatte. Was war eine Siesta schon gegen das erste selbst verdiente Geld und die Möglichkeit, einem Mörder auf die Schliche zu kommen!
Sie überquerten die Westerlandstraße und radelten die breite, schnurgerade Braderuper Straße hinab, Mamma Carlotta im Windschatten ihrer Enkelkinder. Irgendwann fiel Carolin zurück, ließ ihren Bruder vorausfahren und schob sich an die Seite ihrer Großmutter. Leise begann sie von Ekke Nekkepen zu erzählen, dem Wassermann. Dessen Meerfrau Ran war sehr hässlich, deshalb verwandelte sich Ekke Nekkepen manchmal in einen flotten Seemann, lief dann den Kapitänstöchtern nach und schenkte ihnen kostbaren Schmuck.
»Eines Tages verliebte er sich in Inge von Rantum. Er schenkte ihr Ringe und goldene Ketten und nannte sie seine Braut. Und da Inge alle Geschenke angenommen hatte, konnte sie später so leicht keinen Rückzieher machen. Aber bald wurde ihr der Seemann unheimlich, und sie wollte, dass er sie wieder freigab. Doch Ekke Nekkepen war dazu nicht bereit. Er sagte: Nur wenn du in drei Tagen meinen Namen erraten kannst, bist du frei. Er war sich ja ganz sicher, dass Inge niemals dahinterkommen könnte, wie er wirklich hieß. Inge lief herum und fragte alle Leute, aber niemand kannte den Namen ihres Bräutigams, und wenn sie ihn im Dünental traf, versuchte sie es mit allen möglichen Namen, aber nie war der richtige dabei. Dann lief sie einmal sogar nachts in die Dünen, weil sie vor lauter Verzweiflung nicht schlafen konnte. Und da saß Ekke Nekkepen auf einer hohen Düne und sang den Mond an.«
Felix drehte sich um und lachte. »Heute soll ich brauen, morgen soll ich backen, übermorgen will ich Hochzeit machen. Ich heiße Ekke Nekkepen, meine Braut ist Inge von Rantum. Und das weiß niemand, nur ich allein!«
»Nun wusste Inge seinen Namen«, lächelte Mamma Carlotta.
Carolin nickte. »Und Ekke hat einen Korb bekommen. Manche haben im Deutschunterricht natürlich das Märchen von Ekke Nekkepen genommen, ich bin die Einzige, die sich für Rotkäppchen entschieden hat.«
Nun fiel auch Felix zurück, setzte sich an die andere Seite seiner Großmutter, und zu dritt radelten sie nebeneinander her. »Mama hat sich von Papa gern die Sylter Sagen erzählen lassen«, sagte er und sah in die tief hängenden Wolken. »Der Himmel ist ganz nah«, fügte er an, sah wieder nach vorn und trat fester in die Pedalen, damit seine Großmutter und seine Schwester ihn nur von hinten sahen.
Carolin gelang ein kleines Lächeln. »Wenn du da bist, Nonna, ist er noch ein bisschen näher.«
Es dauerte eine Weile, bis sie in der Braderuper Heide ankamen, da Mamma Carlotta an jedem Haus etwas fand, das bewundert werden musste, mal ein blau gestrichenes Gartentor, dann das Fenster eines Erkers mit vielen Sprossen und üppigen Blumen dahinter. Mamma Carlotta konnte sich nicht vorstellen, dass es sich größtenteils um Zweithäuser handelte, die nur gelegentlich bewohnt wurden. »Madonna! Was für eine Verschwendung!«
Schließlich kamen sie an einem Parkplatz an, der sich wie ein hässliches Provisorium am Rande der Bebauung in eine Ecke drängte. Zu dieser Jahreszeit parkte kein einziges Auto dort, aber Carolin versicherte, dass er im Sommer nicht ausreichte, um die Fahrzeuge der Feriengäste aufzunehmen, die in der Braderuper Heide wandern wollten.
In geschwungenen Linien hob sich die rostige Heidefläche in die grauen Wolken, am Horizont verschwammen Himmel und Wasser. Sie stellten die Fahrräder ab und liefen die Holzwege entlang, die bis zum Rand
Weitere Kostenlose Bücher