Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Bart.
»Richtig.«
»Der Verstorbene, dessen Identität er sich bedient hat, braucht mit dem Fall gar nichts zu tun zu haben.«
»Wir sollten der Sache trotzdem nachgehen«, betonte Folke.
Carsten überlegte. »Mag sein.« Die unscheinbaren Wörter waren oft am schwierigsten. Er machte das Fenster zu, setzte sich wieder an den Schreibtisch, zog versehentlich die Schublade mit dem Kaffeebecher heraus, schob sie hastig wieder zu und fand schließlich in der zweiten Lade ein Ringbuch.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Folke.
»Meiner Ansicht nach sollten wir zunächst nicht davon ausgehen, dass der Verstorbene darin verwickelt ist, sondern dass jemand mit Hilfe der Identität eines Toten ein Täuschungsmanöver unternommen hat. Wie heißt er?«
»Sven Samuelsson.«
»Na dann«, sagte Carsten. »Robban oder ich werden uns darum kümmern. Wenn du mir alles gibst, was wir bisher wissen, kann einer von uns nach diesem Sven Samuelsson forschen.« Carsten war dankbar für jede Unterbrechung seiner Verwaltungsaufgaben.
Folke reichte ihm die Mappe mit den Unterlagen und Notizen und erhob sich. Als er die Türklinke schon in der Hand hielt, drehte er sich noch einmal um.
»Es ist übrigens verboten, hier zu rauchen.«
Marstrand, Sommer 1965
In diesem Sommer tauchte das Mädchen auf. Sie stand mit ihrer Großmutter in der Schlange vor der Eisdiele. Aina hatte gerade das Eis der Jungs bezahlt, als die Frau sie begrüßte und ihre Enkeltochter Marianne vorstellte.
»Das ist ja nett«, erwiderte Aina. »Das hier sind Asko und Kristian. Ich glaube, sie wollen nach Söder zum Baden. Marianne kann bestimmt mitkommen. Was meint ihr?«
Die Jungs sahen zuerst einander und dann das Mädchen an.
»Klar«, sagte Asko. Kristian leckte an seinem Eis und nickte.
»Darf ich, Oma?«
»Ja, sicher. Nimm dein Eis mit. Ich setze mich eine Weile mit Aina hierhin, während du deinen Badeanzug holst.«
Das Mädchen rannte los, die Frau lächelte. Da Mariannes Mutter den ganzen Sommer arbeiten musste, verbrachte das Mädchen die Ferien bei ihren Großeltern, die im Eckhaus zwischen Kyrkogatan und Hospitalsgatan wohnten.
Asko, Kristian und Marianne trafen sich in diesem Sommer oft im Haus ihrer Großeltern. Sie grillten im Kachelofen Würstchen und lasen alte Bücher, die stapelweise auf dem Dachboden lagen. Wenn der Regen an die Scheiben prasselte und man das Gefühl hatte, es sei Oktober und nicht Juli, saßen sie im flackernden Schein der Flammen, spielten Spiele und lasen.
Ein Buch interessierte sie ganz besonders. Es handelte von Asenglaube, Mythologie und den geheimnisvollen Nornen Urd, Skuld und Verdandi, die auch als Schicksalsgöttinnen bezeichnet wurden. Der urnordischen Mythologie zufolge lebten diese drei Schicksalsgöttinnen oder Schicksalsdisen am Brunnen der Urd bei der Weltenesche Yggdrasil. Die Schicksalsgöttinnen holten Wasser vom Brunnen und weißen Sand, den sie über die Baumwurzeln streuten, damit die Esche am Leben blieb.
Asko war gefesselt von der Geschichte über die Göttinnen, die die Lebensfäden spannen und die Schicksale der Menschen lenkten. Er stellte sich vor, dass die große Silberpappel oben am Rathaus Yggdrasil war. Allerdings gab es dort keine Quelle, die Urds Brunnen hätte sein können. Höchstens unterirdisch. Asko glaubte jedoch, dass der Schicksalsbrunnen dort irgendwo sein musste, allerdings nur von Eingeweihten zu finden.
Kristian und Marianne hatten nur mit halbem Ohr zugehört, bis Asko konkrete Orte vorschlug. Seiner Ansicht nach kamen drei Stellen in Frage. Die erste war der Brunnen in der Drottninggatan, der einst zu dem
Franziskanerkloster aus dem dreizehnten Jahrhundert gehört hatte. Die zweite war die Opferquelle im Sankt-Eriks-Park.
»Und die dritte?«, hatte Kristian gefragt.
»Die Quelle in Mariannes Garten. Außerdem gibt es dort weißen Sand. Der besteht zwar aus Muscheln, aber er ist ganz fein gemahlen und weiß, genau wie der an den Wurzeln von Yggdrasil.«
Marianne nickte. Plötzlich fiel ihr der Gegenstand ein, den sie im Muschelsand gefunden hatte. Doch sollte sie ihren neuen Freunden wirklich davon erzählen? Sie beschloss, damit noch ein bisschen zu warten.
Das Haus hatte etwas Merkwürdiges an sich. Das lag nicht nur am Knarren der alten Dielen, sondern auch an dem Eindruck, es wäre immer jemand da. Jemand, der das Haus hütete und bewachte. Ein seltsames Gefühl. Als würde einem etwas in die Seele kriechen und versuchen, einem etwas zuzuflüstern. In gewisser
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